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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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vor sich, eine größer und größer werdende Menschenmenge. Während er langsam das Auto die Straße hinuntersteuerte, zog ihm seine zornige, ruhelose Liebe das Herz zusammen.
    7
     
    Die Stadt hatte seit Jahren keinen so kalten Winter erlebt. Der Frost überzog die Fensterscheiben mit Eisblumen, und die Hausdächer waren weiß bereift. Die Winternachmittage leuchteten in dunstig-zitronengelbem Licht, und die Schatten waren zartblau. Eine dünne Eisschicht bedeckte die Pfützen, und am Tag nach Weihnachten erzählte man sich, dass nur sechzehn Kilometer weiter nördlich etwas Schnee gefallen sei.
    Mit Singer ging eine Veränderung vor. Er unternahm oft lange Spaziergänge wie in jenen ersten Monaten nach Antonapoulos’ Abreise, kilometerweite Spaziergänge, auf denen er die ganze Stadt durchstreifte. Er ging durch die übervölkerten Viertel am Fluss, in denen mehr Elend herrschte denn je, weil in diesem Winter die Fabriken stillgelegt waren. Finster waren die Blicke, denen er begegnete, Einsamkeit lag darin. Zum Müßiggang gezwungen, war unter den Menschen eine gewisse Unruhe spürbar. Neue Sekten fanden regen Zulauf. Ein junger Mann, der als Färber in einer Spinnerei gearbeitet hatte, behauptete plötzlich, eine große, heilige Kraft sei über ihn gekommen, und er fühlte sich dazu berufen, eine Reihe neuer göttlicher Gebote zu verkünden. Er errichtete ein Zelt, und dort strömten allabendlich Hunderte von Menschen zusammen, die sich im Glauben an eine göttliche Gegenwart auf dem Boden wälzten und einander schüttelten. Auch Morde kamen vor. Eine Frau, die für einen Hungerlohn arbeitete, bezichtigte den Vorarbeiter, sie bei der Lohnauszahlung betrogen zu haben, und brachte ihm einen tödlichen Messerstich am Hals bei. Eine Negerfamilie zog in das letzte Haus in einer der ärmlichsten Straßen und rief damit eine solche Empörung hervor, dass die Nachbarn das Haus niederbrannten und den Vater erschlugen. Aber das waren nur Zwischenfälle. Im Grunde hatte sich nichts geändert. Es wurde viel von Streik geredet. Da man sich jedoch nicht einig wurde, kam er nie zustande. Alles blieb beim Alten. Auch an den kältesten Abenden war die Sunny Dixie Show in Betrieb. Die Menschen schliefen, träumten und prügelten sich – genau wie sonst. Sie gewöhnten sich daran, nur bis zum nächsten Tag zu denken und nicht an die düstere Zukunft.
    Singer lief durch die verschiedenen dichtbevölkerten Negerviertel. Hier ging es fröhlicher und hitziger zu. In vielen Gassen roch es gut und scharf nach Gin. Wohlig-warmer Feuerschein fiel durch die Fenster auf die Straße. In den Kirchen wurde fast jeden Abend Gottesdienst gehalten. Dann gab es wieder behaglich anmutende Häuschen auf braunen Rasenflächen – auch in solche Viertel kam Singer. Hier waren die Kinder gesünder und zutraulicher. Singer durchstreifte die Wohnviertel der Reichen und kam an pompösen alten Häusern mit weißen Säulen und reichverzierten schmiedeeisernen Gittern vorbei und an großen Backsteinvillen, deren Schornsteine üppig qualmten und vor denen hupende Autos warteten. Er ging bis an den Stadtrand, wo samstagabends die Farmer in den Kramläden gemeinsam um den Ofen saßen. Auch die vier hell erleuchteten Geschäftsblocks mit ihren finsteren, menschenleeren Hintergässchen durchwanderte er. Kein Stadtteil blieb ihm unbekannt. Er betrachtete die gelben Lichtervierecke, die aus tausend Fenstern fielen. Schön waren diese Winternächte. Der Himmel wölbte sich in kaltem Blau, und die Sterne waren sehr hell.
    Nun geschah es oft, dass Singer angesprochen wurde und seinen Spaziergang unterbrach. Er lernte alle möglichen Leute kennen. Wenn ein Fremder ihn ansprach, überreichte er ihm seine Karte, um sein Schweigen zu erklären. Nach und nach kannte man ihn in der ganzen Stadt. Er ging sehr aufrecht, die Hände immer in den Taschen vergraben. Seinen grauen Augen schien nichts zu entgehen, und sein Gesicht hatte immer noch den friedlichen Ausdruck, den man meistens bei sehr weisen oder sehr unglücklichen Menschen findet. Er ließ sich gern von jemandem aufhalten, der seine Gesellschaft genoss. Denn letztlich war all sein Gehen ohne Ziel.
    In dieser Zeit kamen in der Stadt manche Gerüchte über den Taubstummen auf. In früheren Jahren war er mit Antonapoulos nur zur Arbeit und wieder nach Hause gegangen, sonst aber mit seinem Freund zu Hause geblieben. Damals hatte sich niemand um sie gekümmert – und wenn man sie doch einmal beachtete, lag es an dem

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