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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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dicken Griechen. Der Singer jener Jahre war in Vergessenheit geraten.
    Jetzt gingen allerlei phantastische Gerüchte über den Taubstummen um. Die Juden hielten ihn für einen Juden. Die Geschäftsleute von der Hauptstraße behaupteten, er habe eine Erbschaft gemacht und sei sehr reich. In der Textilgewerkschaft raunte man sich ehrfürchtig zu, er sei ein Beauftragter des Gewerkschaftsbundes. Ein einsamer Türke, der vor Jahren in die Stadt geraten war und mit seiner Familie im Hinterzimmer seines kleinen Wäschegeschäftes ein trauriges Leben fristete, wollte seiner Frau einreden, der Taubstumme sei Türke. Wenn er türkisch spreche, verstehe ihn der Taubstumme, so meinte er. Bei solchen Beteuerungen wurde sein Ton warm, er vergaß, mit den Kindern zu zanken, und war voller Pläne und Tatendrang. Ein alter Mann vom Land wusste zu erzählen, der Taubstumme stamme aus seiner Heimat, und sein Vater habe die größte Tabakernte in der Gegend gehabt. All diese Dinge erzählte man sich von Singer.
    Antonapoulos! Ständig dachte Singer an seinen Freund. Nachts im Dunkeln sah er mit geschlossenen Augen das Gesicht des Griechen: rund, fettig glänzend, weise und gütig lächelnd. In seinen Träumen waren sie immer zusammen.
    Antonapoulos war nun schon über ein Jahr fort. Dieses Jahr war dahingegangen – weder schnell noch langsam. Es war dem normalen Zeitgefühl entrückt – ähnlich wie in der Trunkenheit oder wie im Halbschlaf. Täglich und stündlich fühlte er sich von seinem Freund begleitet. Dieses untergründige Leben mit Antonapoulos war den gleichen Veränderungen und Entwicklungen unterworfen wie alles, was rings um ihn geschah. In den ersten Monaten hatte er viel an die schrecklichen Wochen gedacht, bevor Antonapoulos fortgeschafft worden war: an all den Kummer, der mit seiner Krankheit einherging, an die Haftbefehle und an seine eigenen verzweifelten Bemühungen, der unberechenbaren Launen seines Freundes Herr zu werden. Er dachte nur an jene Zeit, in der sie miteinander unglücklich gewesen waren. Vor allem erinnerte er sich oft an ein bestimmtes Ereignis, das weit zurücklag.
    Sie hatten keine Freunde gehabt. Von Zeit zu Zeit lernten sie andere Taubstumme kennen – im Laufe von zehn Jahren wurden sie mit dreien bekannt. Immer aber kam irgendetwas dazwischen. Der eine zog eine Woche, nachdem sie ihn kennengelernt hatten, in einen anderen Staat. Ein anderer war verheiratet, hatte sechs Kinder und benutzte die Zeichensprache nicht. Es war ihre dritte Bekanntschaft, an die Singer sich erinnerte, als sein Freund fort war.
    Dieser Taubstumme hieß Carl, ein blässlicher junger Mann, der in einer Spinnerei arbeitete. Seine Augen waren gelblich, und seine Zähne so brüchig und durchscheinend, dass sie ebenfalls gelblich wirkten. In seinem blauen Overall, der ihm um den mageren, kleinen Körper schlotterte, sah er wie eine blau-gelbe Stoffpuppe aus.
    Sie luden ihn zum Essen ein und richteten es so ein, dass sie sich vorher in dem Laden trafen, in dem Antonapoulos arbeitete. Als sie dort ankamen, war der Grieche noch beschäftigt. Er stand hinten in der Küche und machte Karamelbonbons. Die Bonbons lagen goldglänzend auf dem langen Marmortisch. Die Luft war warm und von süßen Düften erfüllt. Antonapoulos schien es Spaß zu machen, dass Carl ihm dabei zusah, wie er die warme Zuckermasse mit dem Messer in kleine Würfel schnitt. Er bot dem neuen Freund auf der Spitze seines buttrigen Messers ein Stückchen an und führte ihm das Kunststück vor, das er jedem zeigte, bei dem er sich beliebt machen wollte. Er zeigte auf den Herd, auf einen Kessel mit kochendem Sirup, fächelte sich Luft zu und kniff die Augen zusammen, um zu zeigen, wie heiß es war. Dann tauchte er die Hand zuerst in einen Topf mit kaltem Wasser, dann in den kochenden Sirup, zog sie schnell heraus und steckte sie wieder ins kalte Wasser. Die Augen quollen ihm schier aus dem Kopf, er streckte die Zunge heraus und tat, als litte er furchtbare Schmerzen. Er drückte seine Hand und hüpfte auf einem Bein, dass das Haus wackelte. Dann lächelte er plötzlich, zeigte an seiner Hand, dass alles nur ein Scherz gewesen war, und schlug Carl auf die Schulter.
    Es war ein fahler Winterabend, und ihr Atem dampfte in der kalten Luft, als sie Arm in Arm, Singer in der Mitte, die Straße hinuntergingen. Zweimal ging Singer in einen Laden, um Einkäufe zu machen, und die beiden anderen warteten draußen auf ihn. Carl und Antonapoulos trugen die Lebensmittelpakete.

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