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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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er sah vieles, was er nicht verstehen konnte. Er war sehr verwirrt.
    Er sah, wie die Wörter sich auf ihren Lippen formten.
    Wir Neger brauchen eine Chance, um uns endlich zu befreien. Und Freiheit ist das Recht auf Teilhabe. Wir wollen dienen und mitwirken, wollen arbeiten und dafür das erhalten, was uns zusteht. Aber unter allen Weißen, denen ich begegnet bin, sind Sie der Einzige, der die schreckliche Not meines Volkes erkennt.
    Wissen Sie, Mister Singer? Ich hab diese Musik die ganze Zeit in mir drin. Ich möchte eine richtige Musikerin werden. Vielleicht versteh ich jetzt noch nichts davon, aber das werd ich schon, wenn ich mal zwanzig bin. Verstehn Sie mich, Mister Singer? Und dann will ich in ein fremdes Land reisen, wo’s Schnee gibt.
    Komm, machen wir die Flasche leer. Ich muss was trinken. Wo waren wir noch? Bei der Freiheit, richtig. Das Wort sitzt mir wie ein Wurm im Hirn. Freiheit oder keine Freiheit – wie viel oder wie wenig? Das Wort ist ein Signal für Ausbeutung, Diebstahl und Hinterlist. Wir werden frei sein, und die Gerissensten werden die andern unterjochen. Aber! Aber dieses Wort hat auch noch eine andere Bedeutung. Es gibt kein gefährlicheres Wort. Wir Wissenden müssen auf der Hut sein. Uns wird so wohl bei diesem Wort – es ist ja auch das höchste Ideal. Aber grade dieses Ideal missbrauchen sie, um uns in ihren abscheulichen Netzen zu fangen.
    Der Letzte rieb sich die Nase. Er kam selten und sagte nicht viel. Er stellte Fragen.
    Seit mehr als sieben Monaten kamen diese vier Menschen nun zu ihm. Sie kamen nie gleichzeitig – immer jeder für sich. Und immer begrüßte er sie an der Tür mit dem gleichen herzlichen Lächeln. Antonapoulos fehlte ihm wie in den ersten Monaten nach seiner Abreise bei jedem Schritt, den er machte. Aber jede Gesellschaft war besser, als zu lange allein zu sein. Es war wie damals vor etlichen Jahren, als er Antonapoulos ein Versprechen gegeben hatte (er hatte es sogar aufgeschrieben und über seinem Bett an die Wand geheftet), das Versprechen, einen Monat lang auf Zigaretten, Bier und Fleisch zu verzichten. Die ersten Tage waren sehr schlimm gewesen. Er fand keine Ruhe und konnte nicht stillsitzen. Er besuchte Antonapoulos so oft in seinem Laden, dass Charles Parker anfing zu murren. Wenn er die dringendsten Gravierarbeiten erledigt hatte, stand er untätig mit dem Uhrmacher und mit der Verkäuferin vor dem Laden, oder er ging eine Coca-Cola trinken. Auch damals war die Gesellschaft irgendeines Fremden erträglicher gewesen, als allein zu sein mit dem Verlangen nach Zigaretten, Bier oder Fleisch.
    Anfangs hatte er seine vier Besucher nicht verstanden. Sie redeten und redeten – von Monat zu Monat redeten sie mehr. Und er gewöhnte sich so an ihre Lippenbewegungen, dass er bald jedes ihrer Worte verstand. Und nach einiger Zeit wusste er schon vorher, was sie sagen würden, denn der Sinn war immer derselbe.
    Seine Hände wurden ihm zur Qual. Sie ließen ihm keine Ruhe. Sie zuckten im Schlaf, und manchmal merkte er beim Aufwachen, dass er sie im Traum vor sich hingehalten und Zeichen geformt hatte. Er mochte seine Hände nicht sehen, mochte auch nicht an sie denken. Es waren schlanke, braune, sehr kräftige Hände. Früher hatte er sie sorgsam gepflegt. Im Winter rieb er sie mit Öl ein, um zu verhindern, dass sie aufsprangen, er schob die Nagelhaut regelmäßig zurück und feilte die Nägel nach der Rundung seiner Fingerkuppen. Es hatte ihm Freude gemacht, seine Hände sauber und gepflegt zu halten. Nun schrubbte er sie nur zweimal täglich mit einer Bürste und steckte sie dann wieder tief in die Taschen.
    Wenn er in seinem Zimmer auf und ab ging, knackte er mit den Fingern und zerrte daran, bis sie schmerzten. Oder er schlug mit der Faust auf die andere Handfläche. Manchmal, wenn er allein und in Gedanken bei seinem Freund war, begannen seine Hände, ohne sein Zutun, Worte zu formen. Wenn er das merkte, war ihm zumute wie jemandem, der sich bei einem lauten Selbstgespräch ertappt, fast, als hätte er etwas Unrechtes getan. Scham und Kummer wurden eins, er schloss die Hände und legte sie auf den Rücken. Aber sie ließen ihm keine Ruhe.
    Singer stand auf der Straße vor dem Haus, in dem er mit Antonapoulos gewohnt hatte. Es war ein grauer, dunstiger Spätnachmittag. Im Westen waren helle Streifen am Himmel: rosa und ein kaltes Gelb. Ein struppiger Wintersperling zog am dunstigen Himmel seine Kurven und setzte sich schließlich auf einen Dachgiebel. Die

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