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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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gegen die Wand, nur seine Augen schweiften umher; er war müde.
    »War mir eine Ehre.«
    Mister Singer ging zuletzt. Ein wahrhaft guter Mensch. Ein Weißer mit Verstand und echtem Wissen. Er hatte nichts von jener Unverschämtheit an sich. Als alle gegangen waren, blieb er allein zurück. Er schien ein Schlusswort zu erwarten.
    Doktor Copeland strich sich mit der Hand über den Hals, sein Kehlkopf schmerzte. »Lehrer«, sagte er heiser. »Die brauchen wir am nötigsten. Führer. Jemanden, der uns eint und führt.«
    Die Zimmer sahen nach dem Weihnachtstrubel kahl und schäbig aus. Es war kalt im Haus. Portia spülte in der Küche die Tassen. Der Silberschnee vom Baum war über den ganzen Fußboden verteilt, und vom Weihnachtsschmuck waren zwei Stücke zerbrochen.
    Er war müde, aber seine Freude und das Fieber ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er machte sich daran, das Haus in Ordnung zu bringen, und fing im Schlafzimmer damit an. Auf dem Aktenschrank lag eine einzelne Karte: die Krankengeschichte von Lancy Davis. In seinem Kopf formten sich bereits die Worte, die er ihm sagen wollte, und es machte ihn unruhig, sie nicht gleich aussprechen zu können. Das finstere Gesicht des Jungen zeigte einen starken Charakter; es wollte ihm nicht aus dem Kopf. Er zog die oberste Schublade heraus, um die Karte wieder hineinzutun.
    A, B, C – nervös blätterte er weiter. Da fiel sein Blick auf seinen eigenen Namen: Copeland, Benedict Mady.
    Die Mappe enthielt mehrere Röntgenaufnahmen und eine kurze Krankengeschichte. Er hielt ein Röntgenbild ans Licht. An der linken Lunge war oben ein heller Fleck – wie ein verkalkter Stern – zu erkennen. Weiter unten ein großer wolkiger Fleck, genauso auf der rechten Lunge weiter oben. Doktor Copeland legte die Röntgenaufnahmen rasch wieder in die Mappe. Nur die kurzen Notizen, die er dazugeschrieben hatte, hielt er noch in der Hand. Die Wörter dehnten sich und verschwammen, er konnte sie kaum lesen. ›1920 – Verhärtung der Lymphgefäße – ausgesprochene Verdickung der Hilusdrüse. Prozess zum Stillstand gekommen – Arbeit wiederaufgenommen. 1937 – Prozess wieder aktiv – Röntgenbild zeigt…‹ Er konnte nicht weiterlesen. Zuerst konnte er die Wörter nicht erkennen, und als er sie lesen konnte, ergaben sie keinen Sinn. Am Schluss standen drei Wörter: ›Prognose: weiß nicht.‹
    Das alte schwarze, böse Gefühl stieg in ihm hoch. Er bückte sich und zerrte weiter unten eine Schublade heraus. Ein ungeordneter Stoß Briefe. Zuschriften von der ›Vereinigung für den Aufstieg der Farbigen‹. Ein vergilbter Brief von Daisy. Ein Zettel von Hamilton mit der Bitte um anderthalb Dollar. Wonach suchte er? Seine Hände durchwühlten die Lade, schließlich richtete er sich steif wieder auf.
    Vertane Zeit. Eine Stunde unwiederbringlich dahin.
    Portia saß in sich zusammengesunken am Küchentisch und schälte Kartoffeln. Ihr Gesicht hatte einen schmerzlichen Ausdruck.
    »Halt dich gerade«, sagte er ärgerlich. »Und hör jetzt auf, Trübsal zu blasen. Immer dieses Trübsalblasen und dieses Herumfaseln, ich kann das nicht mehr mit ansehen.«
    »Ich hab grad an Willie gedacht«, sagte sie. »Natürlich, der Brief ist ja erst drei Tage verspätet. Aber er dürfte mich nicht so warten lassen. Ist doch sonst nicht seine Art. Und ich hab so ein komisches Gefühl.«
    »Hab Geduld, meine Tochter.«
    »Muss ich wohl.«
    »Ich muss noch ein paar Besuche machen, aber ich bin bald zurück.«
    » O. K. «
    »Wird schon alles gut werden«, sagte er.
    Von seiner Freude war in der hellen, kühlen Mittagssonne nicht viel übriggeblieben. Die Krankheiten seiner Patienten gingen ihm in wirrem Durcheinander durch den Kopf. Ein Nierenabszess, Hirnhautentzündung. Ein Fall von Pottscher Krankheit. Er nahm die Kurbel vom Rücksitz des Wagens. Meistens rief er irgendeinen Neger von der Straße herbei, der ihm den Wagen ankurbelte. Seine Leute freuten sich immer, wenn sie sich nützlich machen konnten. Heute aber kurbelte er selber aus Leibeskräften. Er wischte sich mit dem Mantelärmel den Schweiß vom Gesicht, setzte sich rasch ans Steuer und fuhr los.
    Wie viel von dem, was er heut gesagt hatte, war verstanden worden? Wie viel davon würde einen Wert für sie haben? Er rief sich seine Worte in Erinnerung; sie schienen immer blasser und kraftloser zu werden. Die ungesagten Worte lasteten immer schwerer auf seiner Seele. Sie brannten ihm auf den Lippen. Er sah die Gesichter seines leidgeprüften Volkes

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