Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Straße war menschenleer.
Er starrte zu einem Fenster hinauf, rechts im oberen Stockwerk. Das war ihr Vorderzimmer gewesen; dahinter lag die große Küche, in der Antonapoulos gekocht hatte. Hinter dem erleuchteten Fenster sah er eine Frau hin und her gehen. Er sah sie nur verschwommen. Sie war groß und trug eine Schürze. Ein Mann saß da und las die Abendzeitung. Ein Kind mit einem Stück Brot in der Hand kam ans Fenster und drückte die Nase an die Scheibe. Singer sah das Zimmer so, wie er es verlassen hatte: mit dem breiten Bett für Antonapoulos und der eisernen Liege für ihn selber; das große, üppige Sofa und den Klappstuhl. Die angestoßene Zuckerdose, die sie als Aschenbecher benutzten, den Wasserfleck an der Decke, wo das Dach undicht war, die Wäschetruhe in der Ecke. An solchen Spätnachmittagen hatten sie kein Licht angezündet, nur den großen Petroleumofen. Antonapoulos hatte die Dochte so niedrig geschraubt, dass von den Flämmchen nur ein gezackter, blau-goldener Rand zu sehen war. Das Zimmer war warm und vom köstlichen Geruch des Abendessens erfüllt. Während Antonapoulos die Speisen mit seinem Holzlöffel abschmeckte, tranken sie ein Glas Rotwein nach dem anderen. Auf dem Linoleum vor dem Ofen spiegelten sich die Flämmchen – fünf goldene Lichtchen. Je mehr sich das Zwielicht eintrübte, umso stärker schimmerten die Lämpchen, und wenn es Nacht war, leuchteten sie hell und klar. Dann war auch das Abendessen fertig, sie drehten das Licht an und rückten ihre Stühle an den Tisch.
Singers Blick wanderte zur dunklen Haustür. Er dachte daran, wie sie morgens herauskamen und abends zurückkehrten. Da war das Loch im Pflaster, wo Antonapoulos einmal gestolpert war und sich den Ellenbogen angeschlagen hatte. Dort der Briefkasten, in dem jeden Monat die Rechnung von der Elektrizitätsgesellschaft lag. Er konnte fühlen, wie der Arm des Freundes warm auf seinem lag.
In der Straße war es dunkel. Er blickte noch einmal zu dem Fenster hinauf und sah die fremde Frau, den Mann und das Kind beisammensitzen. Wieder breitete sich diese Leere in ihm aus. Alles war vorbei. Antonapoulos war fort, er konnte seine Erinnerungen nicht mit ihm teilen. Die Gedanken seines Freundes waren irgendwo anders. Singer schloss die Augen und versuchte sich die Anstalt und das Zimmer vorzustellen, in dem Antonapoulos jetzt war. Er dachte an die schmalen, weißen Betten und an die alten Männer, die in der Ecke Karten gespielt hatten. Er hielt die Augen fest geschlossen, aber das Bild des Zimmers wurde nicht klarer. Ganz tief in seinem Innern saß die Leere; er warf einen letzten Blick hinauf und entfernte sich dann auf dem dunklen Gehsteig, den sie so oft zusammen entlanggegangen waren.
Es war Samstagabend. Auf der Hauptstraße wimmelte es von Menschen. Neger in Overalls lungerten fröstelnd vor den Schaufenstern herum. Familien standen an der Kinokasse Schlange, während die jungen Leute draußen die Plakate bestaunten. Der Verkehr war so chaotisch, dass er lange warten musste, bis er die Straße überqueren konnte.
Er kam an dem Laden von Charles Parker vorbei. Schöne Früchte lagen im Schaufenster: Bananen, Orangen, Avocados, leuchtende Mandarinen und sogar einige Ananas. Drinnen bediente Charles Parker einen Kunden. Er fand sein Gesicht widerwärtig. Mehrmals war er in Parkers Abwesenheit in den Laden gegangen und hatte lange dort herumgestanden. Sogar in der Küche war er gewesen, wo Antonapoulos die Süßigkeiten machte. Aber wenn Charles Parker da war, betrat er den Laden nicht. Seit jenem Tag, an dem Antonapoulos im Autobus fortgefahren war, gingen sie einander aus dem Weg. Wenn sie sich auf der Straße begegneten, wandten sie sich ab, ohne einander zu grüßen. Als er seinem Freund einmal seinen Lieblingshonig schicken wollte, hatte er ihn von Parker per Post schicken lassen, um ihn nicht sehen zu müssen.
Singer stand vor dem Schaufenster und beobachtete den Vetter seines Freundes im Gespräch mit seinen Kunden. Samstagabends ging das Geschäft immer gut. Antonapoulos hatte manchmal bis zehn Uhr abends zu tun gehabt. Der große elektrische Röster für das Popcorn stand gleich neben der Tür. Ein Angestellter schüttete eine Portion Mais hinein, und die Körner wirbelten wie riesige Schneeflocken in der Trommel. Ein warmer, vertrauter Duft stieg ihm in die Nase. Auf dem Boden lagen zertretene Erdnussschalen.
Singer ging weiter. Er musste sich behutsam durch die Menge schlängeln, um nicht angerempelt zu
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