Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
werden. Jetzt in der Weihnachtszeit waren die Straßen mit roten und grünen Lämpchen beleuchtet. Die Leute standen lachend und Arm in Arm in Gruppen beisammen. Junge Väter beruhigten ihre schreienden Kinder, die frierend auf ihren Schultern saßen. An der Ecke stand ein Mädchen von der Heilsarmee mit ihrem blau-roten Kapotthut und schwang eine Glocke. Als sie Singer ansah, fühlte er sich verpflichtet, eine Münze in ihre Büchse zu werfen. Weiße und schwarze Bettler hielten ihre Mützen oder schmutzstarrenden Hände auf. Die Lichtreklamen tauchten alle Gesichter in einen rotgelben Schein.
Er stand an der Ecke, wo Antonapoulos und er an einem Augustnachmittag einen tollwütigen Hund gesehen hatten. Dann ging er an dem Laden vorbei, in dem Antonapoulos sich jeden Zahltag hatte fotografieren lassen. Viele dieser Fotografien hatte er immer bei sich. Er wandte sich nach Westen, dem Fluss zu. Einmal hatten sie von Zuhause Kissen mitgenommen, waren über die Brücke gegangen und hatten auf der Wiese am anderen Ufer ein Picknick gemacht.
Singer ging etwa eine Stunde lang auf der Hauptstraße hin und her. Unter all diesen Menschen schien nur er einsam zu sein. Endlich schaute er auf seine Uhr und schlug den Heimweg ein. Vielleicht – hoffentlich! – würde einer der drei ihn heute Abend besuchen.
Zu Weihnachten schickte er Antonapoulos ein großes Paket mit Geschenken. Er beschenkte auch seine vier Besucher und Mrs. Kelly. Er hatte für alle zusammen einen Radioapparat gekauft, den er auf den Tisch am Fenster stellte. Doktor Copeland nahm keine Notiz davon. Biff Brannon bemerkte ihn sofort und zog die Augenbrauen hoch. Jake Blount ließ, wenn er da war, das Radio ununterbrochen laufen, immer denselben Sender. Beim Reden versuchte er die Musik zu übertönen, und die Adern auf seiner Stirn traten hervor. Mick Kelly schien ihren Augen nicht zu trauen, als sie das Radio sah. Mit hochrotem Kopf fragte sie immer wieder, ob es wirklich seins sei und ob sie etwas hören dürfe. Sie drehte mehrere Minuten lang daran herum, bis sie das Programm gefunden hatte, das ihr gefiel. Mit offenem Mund, die Hände auf den Knien, saß sie vorgebeugt auf ihrem Stuhl, und in ihrer Schläfe sah man es ganz schnell klopfen. Was sie auch hörte – sie schien immer mit der gleichen Hingabe zu lauschen. Sie blieb den ganzen Nachmittag, und als sie ihm einmal zulächelte, waren ihre Augen voller Tränen, die sie mit den Fäusten fortwischte. Sie fragte, ob sie manchmal vorbeikommen und Musik hören dürfe, wenn er bei der Arbeit war. Er nickte. Wenn er in den nächsten Tagen nach Hause kam, fand er sie stets vor dem Radio sitzen. Sie wühlte in ihrem kurzen Strubbelhaar, und ihr Gesicht hatte einen Ausdruck, den er noch nie gesehen hatte.
Kurz nach Weihnachten besuchten ihn eines Abends alle vier gleichzeitig. Das war bisher noch nie vorgekommen. Singer ging lächelnd im Zimmer hin und her, bewirtete seine Gäste und tat alles dafür, dass sie sich wohl fühlten. Aber etwas stimmte nicht. Doktor Copeland wollte sich nicht setzen. Er blieb, den Hut in der Hand, an der Tür stehen und begrüßte die anderen nur mit einer kühlen Verbeugung. Die sahen ihn an, als fragten sie sich, was er hier zu suchen habe. Jake Blount machte die von ihm mitgebrachten Bierflaschen auf und bespritzte sein Hemd mit dem Schaum. Mick Kelly lauschte der Musik aus dem Radio. Biff Brannon saß mit übergeschlagenen Beinen auf dem Bett, musterte kritisch einen nach dem andern und kniff dabei die Augen zusammen.
Singer war verwirrt. Jeder Einzelne von ihnen hatte sonst so viel zu sagen. Aber jetzt, da sie alle zusammen waren, schwiegen sie. Als sie hereinkamen, hatte er erwartet, dass es so etwas wie einen Ausbruch gäbe. Er hatte das unbestimmte Gefühl gehabt, etwas ginge dann zu Ende. Aber da war nur diese Spannung im Zimmer. Seine Hände bewegten sich fahrig, als holten sie unsichtbare Dinge aus der Luft, die sie miteinander verbinden müssten.
Jake Blount stand neben Doktor Copeland. »Ich hab Sie schon mal gesehn. Wir sind mal zusammengestoßen – draußen auf der Treppe.«
Doktor Copeland sprach so präzise, als schnitte er jedes einzelne Wort mit einer Schere ab: »Ich wüsste nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind.« Dann schien sein steifer Körper zusammenzuschrumpfen. Er trat so weit zurück, dass er hinter der Schwelle im Gang stand.
Biff Brannon rauchte gelassen seine Zigarette. Der Rauch stand in dünnen, blauen Schwaden im Zimmer. Er
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