Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
Vom Netzwerk:
wandte sich Mick zu und errötete. Er senkte die Lider, und das Blut wich wieder aus seinem Gesicht. »Wie kommst du denn jetzt mit deinen Sachen vorwärts?«
    »Was für Sachen denn«, fragte Mick misstrauisch.
    »Na – so im täglichen Leben«, meinte er. »In der Schule und so.«
    »Geht schon«, sagte sie.
    Alle blickten auf Singer, als erwarteten sie etwas von ihm. Er war sehr durcheinander, lächelte und reichte ihnen etwas zu essen.
    Jake rieb sich die Lippen mit der Handfläche. Er gab den Versuch, mit Doktor Copeland ins Gespräch zu kommen, auf und setzte sich neben Biff aufs Bett. »Weißt du, wer neulich bei den Spinnereien diese blöden Sprüche mit roter Kreide an Zäune und Mauern geschmiert hat?«
    »Nein, was für blöde Sprüche?«, fragte Biff.
    »Das meiste war aus dem Alten Testament. Ich frag mich schon die ganze Zeit, wer das war.«
    Alle redeten eigentlich für den Taubstummen. Ihre Gedanken schienen bei ihm zusammenzulaufen wie die Radspeichen einer Nabe.
    »Eine ganz außergewöhnliche Kälte«, sagte Biff schließlich. »Neulich hab ich ein paar alte Wetterberichte durchgesehn: Im Winter 1919 ist das Thermometer mal auf zehn Grad Fahrenheit gesunken. Und heute früh waren es auch bloß sechzehn Grad, und so kalt war es seit dem Frost damals nicht mehr.«
    »Heut früh waren Eiszapfen am Kohlenschuppen«, sagte Mick.
    »Letzte Woche haben wir so wenig verdient, dass wir nicht mal die Löhne zahlen konnten«, sagte Jake.
    Sie sprachen noch eine Zeitlang über das Wetter. Jeder schien darauf zu warten, dass die anderen gingen. Dann standen sie wie auf Verabredung alle gleichzeitig auf und verabschiedeten sich. Doktor Copeland ging voran, die anderen folgten ihm. Als sie fort waren, stand Singer allein im Zimmer. Er verstand nicht, was gerade passiert war, und wollte es schnell vergessen. Er beschloss, Antonapoulos heute Abend zu schreiben.
    Antonapoulos konnte zwar nicht lesen, aber das hielt Singer nicht davon ab, ihm zu schreiben. Er hatte immer gewusst, das sein Freund nichts Geschriebenes verstand, aber im Lauf der Monate fing er an sich vorzustellen, dass Antonapoulos doch lesen könne und es ihm nur verheimlicht habe. Außerdem gab es möglicherweise in der Anstalt einen Taubstummen, der seine Briefe lesen und sie dem Freund übersetzen konnte. Er überlegte sich mehrere Rechtfertigungen für seine Briefe, denn immer, wenn er verwirrt oder traurig war, drängte es ihn, seinem Freund zu schreiben. Keiner dieser Briefe wurde je abgeschickt. Er schnitt die Witzseiten der Morgen- und Abendzeitungen aus und schickte sie jeden Sonntag an den Freund. Außerdem überwies er ihm einmal im Monat etwas Geld. Seine langen Briefe an Antonapoulos aber häuften sich in seinen Taschen, bis er sie eines Tages vernichtete.
    Als die vier Besucher gegangen waren, zog Singer seinen warmen grauen Mantel an, setzte seinen grauen Filzhut auf und verließ das Zimmer. Seine Briefe schrieb er immer im Geschäft. Außerdem hatte er versprochen, bis zum nächsten Morgen eine bestimmte Arbeit fertigzustellen, und er wollte sie pünktlich erledigen. Die Luft war scharf und eisig. Der Vollmond schien, von einem goldenen Hof umgeben. Die Dachfirste ragten schwarz in den sternenübersäten Himmel. Unterwegs überlegte er sich den Anfang des Briefes, aber noch ehe er sich über den ersten Satz klargeworden war, hatte er schon den Juwelierladen erreicht. Er schloss den dunklen Laden auf und machte Licht.
    Sein Arbeitsplatz befand sich im hinteren Teil des Ladens und war durch einen Vorhang abgetrennt, so dass er beinah ein kleines Zimmer für sich hatte. Außer der Werkbank und einem Stuhl gab es den schweren Stahlschrank in der Ecke und an der Wand ein Waschbecken mit einem grünlich schimmernden Spiegel, dann einige Regale mit Schachteln und reparaturbedürftigen Uhren. Singer schob die Platte seines Arbeitstisches zurück und entnahm dem mit Filz ausgelegten Fach die Silberschale, die er fertigstellen wollte. Obwohl es im Laden kalt war, zog er das Jackett aus, er krempelte auch die blaugestreiften Hemdsärmel hoch, um unbehindert zu sein.
    Er arbeitete lange an dem Monogramm in der Mitte der Schale. Mit zarten, sicheren Strichen führte er die Graviernadel über das Silber. Dabei hatten seine Augen einen merkwürdig eindringlichen, hungrigen Ausdruck. Er dachte an den Brief, den er seinem Freund Antonapoulos schreiben wollte. Erst nach Mitternacht war er fertig. Als er die Silberschale beiseite stellte, war seine

Weitere Kostenlose Bücher