Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Stirn feucht vor Erregung. Er machte Platz auf der Werkbank und begann zu schreiben. Er genoss es, unter seiner Feder Wörter entstehen zu sehen, und malte die Buchstaben so liebevoll, als wäre das Blatt Papier vor ihm eine silberne Schale.
Mein einziger Freund!
In unserer Zeitschrift habe ich gelesen, dass der Verein dieses Jahr eine Tagung in Macon abhält. Auf dem Programm stehen Vorträge und ein Bankett mit vier Gängen. Ich stelle mir das gerade vor. Erinnerst Du Dich: Wir hatten immer vor, zu so einer Tagung zu fahren, aber wir haben es nie getan. Hätten wir es doch nur getan. Ich wünschte, wir könnten zu dieser Tagung fahren – ich habe mir vorgestellt, wie das sein würde. Aber natürlich würde ich nie ohne Dich fahren. Sie werden aus vielen Staaten anreisen, die Herzen übervoll mit Träumen und Worten. In einer Kirche wird ein spezieller Gottesdienst stattfinden, außerdem wird eine Art Wettbewerb ausgerichtet, mit einer goldenen Medaille als Preis. Ich schrieb, dass ich mir das alles vorstelle. Das tue ich und tue es auch wieder nicht. Meine Hände sind schon so lange stumm, dass ich kaum noch weiß, wie das ist. Und wenn ich mir die Tagung vorstelle, dann sehen alle Teilnehmer so aus wie Du, mein Freund.
Neulich stand ich vor unserer alten Wohnung. Jetzt wohnen dort andere Leute. Erinnerst Du Dich an die große Eiche vor dem Haus? Die Äste wurden zurückgeschnitten, weil sie an die Telefonkabel stießen, und nun ist der Baum dahin. Die Äste sind verdorrt, und der Stamm ist hohl. Außerdem hat die Katze hier im Laden (Du hast sie so oft gestreichelt und liebkost) irgendwas Giftiges gefressen und ist gestorben. Das war sehr traurig.
Singer hielt die Feder schwebend über dem Papier. Lange saß er sehr aufrecht und angespannt da, ohne den Brief weiterzuschreiben. Dann stand er auf und zündete sich eine Zigarette an. Im Laden war es kalt; die Luft roch schal und abgestanden – eine Mischung aus Heizöl, Silberputzzeug und Tabak. Er zog den Mantel an, legte seinen Schal um und schrieb langsam und entschlossen weiter.
Du erinnerst Dich wahrscheinlich an die vier Menschen, von denen ich Dir erzählte, als ich bei Dir war. Ich habe ihre Gesichter für Dich aufgezeichnet: den Schwarzen, das junge Mädchen, den mit dem Schnurrbart und den Besitzer vom Café New York. Da ist so manches, was ich Dir von ihnen erzählen möchte, aber ich weiß nicht recht, wie ich es in Worte fassen soll.
Alle vier sind sehr beschäftigt. Sie sind wirklich so sehr beschäftigt, wie Du Dir’s wahrscheinlich kaum vorstellen kannst. Ich meine nicht, dass sie Tag und Nacht für ihren Beruf arbeiten; sie beschäftigen sich in Gedanken mit so vielen Dingen, dass sie nicht zur Ruhe kommen. Sie kommen zu mir herauf und erzählen mir so viel, dass es mir schlicht unbegreiflich ist, wie ein Mensch den Mund so oft auf- und zumachen kann, ohne müde zu werden. (Der Besitzer vom Café New York ist allerdings anders – er ist nicht so wie die anderen. Er hat einen kohlschwarzen Bart, so dass er sich täglich zweimal rasieren muss – er hat einen von diesen elektrischen Rasierapparaten. Er beobachtet viel. Und alle haben irgendwas, was sie mehr lieben als Essen und Schlafen oder Wein und gute Gesellschaft. Deshalb sind sie auch immer so beschäftigt.)
Der mit dem Schnurrbart ist, glaube ich, verrückt. Manchmal drückt er sich ganz klar aus wie der Lehrer in meiner Schule damals. Ein andermal wieder redet er in einer Sprache, der ich nicht folgen kann. Manchmal hat er einen feinen Anzug an, das nächste Mal kommt er in seinem verdreckten, stinkenden Overall, den er bei der Arbeit trägt. Er droht mit der Faust und gebraucht im Rausch hässliche Ausdrücke, die ich Dir lieber nicht schreiben will. Er glaubt, wir beide, er und ich, hätten ein gemeinsames Geheimnis, aber ich weiß nicht, was das ist. Und dann muss ich Dir noch etwas ganz Unglaubliches schreiben. Er kann anderthalb Liter Whisky trinken und trotzdem reden und sich auf den Beinen halten und will nicht ins Bett gehen. Du wirst das nicht glauben, aber es ist wahr.
Ich wohne bei der Mutter des jungen Mädchens zur Miete, 16 Dollar im Monat. Früher lief das Mädchen immer wie ein Junge rum, in kurzen Hosen, aber jetzt trägt sie einen blauen Rock mit Bluse. Sie ist noch keine junge Dame. Ich mag es, wenn sie mich besuchen kommt. Sie kommt jetzt ständig, seitdem ich ein Radio für sie alle gekauft habe. Sie liebt Musik. Ich wüsste gern, was sie hört. Sie weiß, dass ich
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