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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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in Händen hielt. Nichts regte sich außer den gelben Laternen, die im Finstern hin und her schwangen. Dann plötzlich fühlte er es unter sich brodeln. Die Erde tat sich auf, die Treppe stürzte ein, und er fühlte, wie er fiel und fiel. Mit einem Ruck erwachte er. Das Fenster schimmerte weiß im ersten Morgenlicht. Er hatte Angst.
    Es war so viel Zeit vergangen – seinem Freund konnte etwas zugestoßen sein. Da Antonapoulos ihm nicht schrieb, würde er nichts davon erfahren. Vielleicht war sein Freund gestürzt und hatte sich verletzt. Es zog ihn so übermächtig zu ihm, dass er um jeden Preis hinfahren musste – und zwar sofort.
    An diesem Morgen fand er in seinem Postfach die Benachrichtigung, dass ein Paket für ihn gekommen sei. Es war das späte Weihnachtsgeschenk. Ein prachtvolles Geschenk, das er auf Ratenzahlung gekauft hatte und im Lauf von zwei Jahren abzahlen wollte: ein Heimkino mit einem halben Dutzend Micky-Maus- und Popeye-Filmchen, die Antonapoulos so mochte.
    Singer kam an diesem Morgen als Letzter zur Arbeit. Er überreichte seinem Arbeitgeber ein formelles Gesuch um Urlaub für Freitag und Samstag. Obwohl in dieser Woche die Aussteuer für vier Hochzeiten fertig werden musste, gab der Juwelier nickend sein Einverständnis.
    Er sagte niemandem etwas von seiner Reise, klebte aber einen Zettel an seine Tür: Er werde mehrere Tage geschäftlich unterwegs sein. Er nahm den Nachtzug und erreichte beim ersten winterlichen Morgenrot sein Ziel.
    Nachmittags ging er etwas früher als zur offiziellen Besuchszeit zur Anstalt, bepackt mit Mitbringseln für seinen Freund: einem Korb Obst und den einzelnen Teilen des Heimkinos. Er suchte gleich den Krankensaal auf, wo er Antonapoulos das letzte Mal besucht hatte.
    Der Korridor, die Tür, die Bettenreihen – alles war genau so, wie er es in Erinnerung hatte. Er stand aufgeregt auf der Schwelle und suchte nach seinem Freund. Aber er sah sofort: Alle Stühle waren besetzt, und Antonapoulos war nicht hier.
    Singer legte seine Pakete ab und schrieb auf eine seiner Notizkarten: »Wo ist Spiros Antonapoulos?« Eine Schwester kam herein, er reichte ihr die Karte. Sie verstand nicht, schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern. Er ging wieder auf den Korridor und zeigte jedem, der ihm begegnete, seine Karte. Keiner wusste etwas. Seine Panik war so groß, dass er in der Zeichensprache zu reden begann. Schließlich traf er einen Assistenzarzt im weißen Kittel. Den hielt er am Ellenbogen fest und gab ihm die Karte. Der Assistent las aufmerksam und führte ihn durch mehrere Korridore. Sie kamen in ein kleines Zimmer, in dem eine junge Frau an einem mit Papier bedeckten Schreibtisch saß. Auch sie las die Karte, nahm dann einige Akten aus einer Schublade und blätterte darin.
    Vor Nervosität und Angst traten Singer die Tränen in die Augen. Die junge Frau schrieb bedächtig etwas auf einen Notizblock. Er konnte sich nicht beherrschen: Er musste zu ihr herumgehen und sehen, was da über seinen Freund geschrieben stand.
Mr.   Antonapoulos ist in die Krankenabteilung verlegt worden. Er leidet an einer Nierenentzündung. Ich lasse Sie hinbringen.
    Er nahm die Pakete mit, die er vor der Tür des Krankensaals liegen gelassen hatte. Der Obstkorb war gestohlen worden, aber die anderen Pakete waren unberührt. Er folgte dem Assistenten durch die Korridore, aus dem Gebäude hinaus und über eine große Rasenfläche zur Krankenabteilung.
    Antonapoulos! Als sie in den richtigen Krankensaal kamen, sah er ihn auf den ersten Blick. Er saß, von Kissen gestützt, in seinem Bett, in der Mitte des Raumes. Er trug einen roten Hausmantel, einen grünseidenen Schlafanzug und an der Hand einen Türkisring. Seine Haut sah wächsern aus, seine Augen waren ganz dunkel und verträumt. Sein schwarzes Haar hatte an den Schläfen einen silbrigen Schimmer. Er strickte. Seine dicken Finger hantierten sehr langsam mit den langen Elfenbeinnadeln. Zunächst bemerkte er seinen Freund nicht. Als Singer dann vor ihm stand, lächelte er heiter und keineswegs überrascht und reichte ihm seine beringte Hand.
    Singer war verlegen und scheu, ein Gefühl, das er nicht kannte. Er setzte sich ans Bett und legte seine gefalteten Hände auf den Rand der Bettdecke. Er war leichenblass und wandte den Blick nicht vom Gesicht des Freundes. Antonapoulos’ prächtige Aufmachung verblüffte ihn. Er hatte ihm die einzelnen Sachen nach und nach geschickt, hatte sich aber nie vorgestellt, wie sie sich zusammen ausnehmen

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