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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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erfuhren, stützten sie sich aufgeregt auf die Ellenbogen. Nur Antonapoulos ließ sich nicht stören.
    Singer hatte das Heimkino schon zu Hause ausprobiert. Er hängte die Leinwand so, dass alle Patienten sie sehen konnten. Dann stellte er den Projektor auf und legte den Film ein. Die Schwester trug die abgegessenen Tabletts hinaus, und das Licht im Krankensaal wurde ausgedreht. Ein Micky-Maus-Film flimmerte über die Leinwand.
    Singer beobachtete seinen Freund. Zuerst war Antonapoulos erschrocken. Er wuchtete sich hoch, um besser sehen zu können, und wäre aus dem Bett gestiegen, wenn die Schwester ihn nicht zurückgehalten hätte. Dann sah er mit strahlendem Lächeln zu. Singer sah, wie die anderen Patienten sich Bemerkungen zuriefen und lachten. Schwestern und Wärter kamen vom Korridor herein, der ganze Krankensaal war in heller Aufregung.
    Als der Micky-Maus-Film zu Ende war, legte Singer einen Popeye-Film ein. Danach fand er, dass es fürs Erste genug sei. Er knipste das Licht an, und der Saal beruhigte sich wieder. Als der Assistenzarzt den Apparat unter das Bett seines Freundes stellte, sah er, dass Antonapoulos sich listig blinzelnd nach allen Seiten umblickte, als wolle er jedem zu verstehen geben, dass der Apparat ihm gehöre.
    Singer redete wieder mit den Händen. Er wusste: Bald würde man ihn fortschicken, und für die vielen Gedanken, die sich in ihm gestaut hatten, war die Zeit zu kurz. So redete er hektisch weiter. Unter den Patienten war ein alter Mann mit Schüttellähmung. Er wackelte mit dem Kopf und zupfte fahrig an seinen Augenbrauen. Singer beneidete den alten Mann, denn er konnte täglich mit Antonapoulos zusammen sein. Wie gern hätte er mit ihm getauscht.
    Antonapoulos suchte irgendetwas an seiner Brust und brachte das kleine Messingkreuz zum Vorschein, das er immer getragen hatte. Die schmutzige Schnur war jetzt durch ein rotes Band ersetzt. Singer fiel sein Traum ein, und er erzählte dem Freund davon. In seiner Hast verwischte er manche Zeichen, musste die Hände schütteln und wieder von vorne anfangen. Antonapoulos beobachtete ihn schläfrig aus seinen dunklen Augen. Wie er so unbeweglich in seinen prächtigen, bunten Kleidern dasaß, hatte er etwas von einem weisen Märchenkönig.
    Der diensthabende Assistenzarzt erlaubte Singer, nach der Besuchszeit noch eine Stunde zu bleiben. Schließlich hielt er ihm sein mageres, behaartes Handgelenk hin und zeigte auf die Uhr. Die Patienten waren schon zum Schlafen gebettet. Singers Hand stockte. Er ergriff den Arm seines Freundes und sah ihm eindringlich in die Augen, so wie früher jeden Morgen, wenn sie sich vor der Arbeit getrennt hatten. Schließlich ging er. An der Tür beschrieben seine Hände ein stammelndes Lebewohl. Dann verkrampften sie sich zu Fäusten.
    In den mondhellen Januarnächten ging Singer, wenn er nichts anderes vorhatte, Abend für Abend durch die Straßen der Stadt. Die Gerüchte über ihn wurden immer abenteuerlicher.
    Eine alte Negerin erzählte Hunderten von Leuten, er könne die Geister der Toten herbeirufen. Ein Fabrikarbeiter behauptete, er habe in einer Spinnerei, irgendwo anders im Staat, mit dem Taubstummen zusammengearbeitet – und erzählte einmalige Geschichten über ihn. Die Reichen meinten, er sei reich, und die Armen hielten ihn für ihresgleichen. Da diese Gerüchte nie widerlegt wurden, wurden sie immer abenteuerlicher. Jeder schilderte den Taubstummen so, wie er ihn sich wünschte.
    8
     
    Warum?
    Unablässig durchströmte diese Frage Biff, unmerklich wie das Blut in seinen Adern. Seine Gedanken beschäftigten sich mit Menschen, mit Dingen oder mit Ideen, immer aber war diese Frage in ihm. Mitten in der Nacht, wenn es noch dunkel war, am helllichten Tag. Hitler und die Kriegsgerüchte. Schweinefleischpreise und Biersteuer. Vor allem aber der rätselhafte Taubstumme. Warum zum Beispiel fuhr Singer mit der Bahn fort, und wenn man ihn dann fragte, wo er gewesen sei, tat er so, als habe er die Frage nicht verstanden? Und warum hatten sich alle in den Kopf gesetzt, der Taubstumme sei genau so, wie sie ihn sich wünschten – während das doch ganz offensichtlich ein Trugschluss war? Dreimal täglich saß Singer bei ihm am Mitteltisch. Er aß, was man ihm vorsetzte – außer Kohl und Austern. In all dem Tumult war er der einzige Schweigsame. Am liebsten aß er die kleinen, zarten Butterbohnen. Er spießte sie gleichmäßig mit den Zacken seiner Gabel auf und tunkte dann die Plätzchen in den

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