Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
würden. Antonapoulos war viel massiger, als er ihn in Erinnerung gehabt hatte. Unter dem seidenen Schlafanzug zeichneten sich die riesigen Wülste seiner Bauchfalten ab. Vor dem weißen Kissen wirkte sein Kopf ungeheuer groß. Seine Miene blieb unerschütterlich gelassen; er schien Singers Anwesenheit kaum wahrzunehmen.
Singer hob schüchtern die Hände und begann zu sprechen. Seine geübten, kräftigen Finger formten die Zeichen mit liebevoller Genauigkeit. Er sprach von der Kälte und von den langen, einsamen Monaten. Er spielte auf alte Erinnerungen an, erwähnte die verstorbene Katze, den Laden, seine Wohnung. Wenn er eine Pause machte, nickte ihm Antonapoulos wohlwollend zu. Er sprach von den vier Menschen, die so viel Zeit in seinem Zimmer verbrachten. Die dunklen Augen seines Freundes hatten einen feuchten Glanz, und in ihnen spiegelte sich sein Gesicht wider, so wie er es tausendmal gesehen hatte. Das Blut strömte ihm wieder warm ins Gesicht, und seine Hände bewegten sich schneller. Zuletzt sprach er von dem Schwarzen, von dem Mann mit dem zuckenden Schnurrbart und von dem Mädchen. Immer rascher formten seine Hände die Zeichen. Antonapoulos nickte langsam und feierlich. In seinem Eifer rückte Singer näher an ihn heran. Sein Atem ging in langen, tiefen Zügen, und in seinen Augen glitzerten Tränen.
Auf einmal hob Antonapoulos seinen dicken Zeigefinger und ließ ihn langsam in der Luft kreisen, kam damit immer näher auf Singer zu und piekte ihn schließlich in den Bauch. Das Lächeln auf dem Gesicht des dicken Griechen wurde immer breiter, und dann streckte er dem Freund seine dicke, rote Zunge heraus. Singer lachte und ließ seine Hände in wilder Hast reden. Er warf den Kopf zurück, und seine Schultern zuckten vor Lachen. Warum er lachte, wusste er nicht. Antonapoulos rollte mit den Augen. Singers Lachen wurde immer ausgelassener, bis er schließlich atemlos und mit zitternden Fingern dasaß. Er packte seinen Freund beim Arm und versuchte sich zu beruhigen. Sein Lachen klang jetzt mühsam und schwerfällig wie ein Schluckauf.
Antonapoulos beruhigte sich als Erster wieder. Seine fetten, kleinen Füße hatten die Decke am Fuß des Bettes herausgezogen. Er lächelte nicht mehr und trat verächtlich nach der Decke. Singer beeilte sich, sie wieder festzustecken, aber Antonapoulos runzelte die Stirn und winkte gebieterisch eine Schwester herbei, die durch den Saal ging. Als sie das Bett zu seiner Zufriedenheit gerichtet hatte, dankte ihr der dicke Grieche mit einem huldvollen Kopfnicken, das mehr eine segnende Gebärde als eine schlichte Dankesbezeugung war. Dann wandte er sich mit ernster Miene wieder seinem Freund zu.
Singer hatte vor lauter Reden nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war. Erst als eine Schwester auf einem Tablett das Abendessen für Antonapoulos brachte, merkte er, wie spät es war. Im Krankensaal hatte man das Licht angedreht, und draußen vor den Fenstern war es fast dunkel. Auch die anderen Patienten hatten Tabletts mit ihrem Abendessen vor sich. Sie hatten ihre Arbeit beiseitegelegt (manche flochten Körbe, andere machten Lederarbeiten oder strickten) und begannen lustlos zu essen. Neben Antonapoulos wirkten alle sehr bleich und elend. Die meisten brauchten dringend einen neuen Haarschnitt, alle trugen am Rücken offenstehende Nachthemden aus grobem, grauem Stoff. Sie starrten die beiden Taubstummen verwundert an. Antonapoulos nahm den Deckel von seinem Essen und inspizierte es gründlich. Es gab Fisch mit Gemüsebeilage. Er pickte den Fisch heraus, legte ihn auf seine Handfläche und hielt ihn zur genauen Untersuchung ans Licht. Dann machte er sich mit großem Appetit an seine Mahlzeit. Während des Essens zeigte er Singer die verschiedenen Leute im Saal. Er deutete auf einen Mann in der Ecke und schnitt angeekelte Grimassen dazu. Der Mann knurrte ihn an. Dann wies er lächelnd auf einen jungen Burschen, nickte und winkte ihm mit seiner dicken Hand zu. Singer war zu glücklich, um all das unangenehm zu finden. Um seinen Freund abzulenken, nahm er die Pakete vom Fußboden und legte sie aufs Bett. Antonapoulos wickelte sie aus, interessierte sich aber nicht im Geringsten für den Apparat und wandte sich wieder seinem Essen zu.
Singer gab der Schwester einen Zettel mit einer Anleitung für das Heimkino. Sie rief einen Assistenzarzt, und dann holten sie einen Arzt. Während sie sich zu dritt berieten, blickten sie neugierig zu Singer hinüber. Als die Patienten von der Neuigkeit
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