Das Herz ist eine miese Gegend
Schlimmste daran war, daß Laura überhaupt in eine Schublade passen sollte. Er, der sie niemals kategorisieren würde, mußte nun mitansehen, wie andere, Bo zum Beispiel, sie unter der Überschrift »Höhere Tochter« ablegten.
Im Sommer sollte sie für ein Jahr nach Amerika gehen. Nach Seattle zu Freunden ihres Vaters. Sie freute sich darauf, sagte aber zu Giovanni: »Ich vermisse dich jetzt schon.«
Er hatte Angst davor, ein ganzes Jahr lang ohne sie zu sein, so große Angst, daß er sich nicht einmal vorstellen konnte, wie das wäre. Aber der Zeitpunkt rückte näher, und man konnte nicht nach Seattle trampen. Irgendwann fing er an, ihr übelzunehmen, daß sie gehen wollte, daß sie sich freute und daß sie tat, als wäre das ganz normal. Aber er wußte, auch er würde gehen, wenn er könnte, und stellte fest, daß Gehendürfen so anders ist als Bleibenmüssen.
Pauls Lexikon war fertig alphabetisiert, und Giovanni gab inzwischen Gitarrenunterricht. Er bekam zehn Mark für die Stunde und verdiente so viel Geld wie nie zuvor. Sechs Schüler pro Woche hatte sein Vater erlaubt, aber er hätte leicht doppelt so viele unterrichten können. Jeder wollte »House of the Rising Sun« spielen können, und jedem brachte Giovanni es bei.
Und dann stand Laura vor der Schule und sagte: »Ich muß mit dir reden.«
Sie fuhren auf seinem Mofa in den Wald. Als sie vom Gepäckträger stieg, weinte sie.
»Ich hatte sozusagen etwas mit deinem Spinnerfreund Bo«, sagte sie und setzte sich auf die Bank.
Etwas drückte in Giovannis Zwerchfell, als solle ihm die Luft herausgepreßt werden. Er sagte nichts und setzte sich neben sie.
»Ich war bei Evi, und er war auch da, anscheinend geht er gerade mit ihr«, sagte Laura. »Wir haben viel getrunken, und ich war einverstanden, daß er mich nach Hause begleitet ...«
»Hör auf«, hörte Giovanni sich sagen, »ich will es nicht wissen.«
»Aber du mußt es wissen. Es ist nicht so, wie du denkst.«
»Ich denke gar nicht«, sagte Giovanni und stand auf. »Ich fahr dich nach Hause.«
»Ich geh lieber.«
Diesmal verschwamm ihm der Weg nicht vor den Augen, nur dieser Druck auf dem Zwerchfell blieb. Natürlich war klar, daß man einander nicht besitzt, daß der andere kein Objekt ist und die Freiheit oberstes Gesetz. Das alles hatte sich bis zu Giovanni herumgesprochen. Nicht herumgesprochen aber hatten sich Vorschläge, wie es auszuhalten sei, daß ein anderer solche Geheimnisse mit der Geliebten teilt, daß fortan aus jedem Blick von ihr, aus jedem Wort und ihrem Schoß ein Gespenst hervorgrinsen würde. Hase und Igel. Giovanni der dumme Hase und Bo die beiden Igel. Wäre er wenigstens ein Fremder, ohne Gesicht für mich, dachte Giovanni, einer, bei dem ich mir nicht so gut vorstellen kann, wie er es tut.
Und Laura? Die stolze, kluge Laura, die immer so genau weiß, was sie will, was macht sie mit einem Serienficker, bei dem es auf die Summe ankommt, was hat sie zu tun mit einem, der die Frauen als Zielscheiben benutzt, was will sie von einem, der schon in jedem Astloch der Umgebung, in jedem tieferen Aschenbecher und jeder weggeworfenen Coladose war?
Er warf sich in sein Bett und drückte ein Kissen über seinen Kopf, aber keine Dunkelheit und schon gar nicht Ruhe konnte das Rasen der Gedanken bremsen.
Freddies Pfote stöberte ihn in seinem Versteck auf, und traurig ließ er sich die nasse Nase von ihm lecken. Und der Rhythmus von Freddies schnurrenden Atemzügen schließlich schaffte es auch, daß seine Gedanken langsamere und weitere Kreise zu ziehen begannen und der Druck von seinem Zwerchfell wich.
Den nächsten Tag verbrachte er mit Fieber im Bett, getröstet von Freddie, der nur selten und nie lange das Zimmer verließ. Am Morgen darauf gab ihm seine Mutter einen Brief.
Wer nicht hören will, muß lesen, stand da. Es tut mir leid. Ich fühle mich scheußlich und Dir gegenüber hundsgemein. Giovanni, ich liebe Dich und würde einen Finger dafür opfern, es rückgängig zu machen. Oder eine Zehe. Nase, Auge oder Ohr biete ich Dir extra nicht an, weil ich mir nicht sicher bin, ob Du mich noch haben willst, wenn ich auch noch aussehe wie ein Monster. Du liebst mich doch, oder? Falls Du es selber nicht entscheiden kannst, frag Freddie. Er kennt Dich. Er hat mir in Aix von Dir erzählt.
Jedenfalls, hier kommt die Geschichte: Mir war schlecht, ich mußte sogar kotzen, und Bo half mir so lieb, daß ich ihm dankbar war. Zu Hause, bei mir, machte er Kaffee und beruhigte meinen
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