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Das Herz ist eine miese Gegend

Das Herz ist eine miese Gegend

Titel: Das Herz ist eine miese Gegend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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die Außenwelt auf schmale Sehschlitze, durch die er Bos Pirouetten unglücklich, aber in Sicherheit beobachten konnte.

NEUNZEHN
    Es war keine Kunst, einmal täglich irgendwo hervorgezerrt zu werden und eine Maschinenpistole auf sich gerichtet zu sehen. Bangladesch kam als Neuzugang aufdie Weltkarte, und in Augsburg starben das RAF- Mitglied Weissbecker und der Polizist Eckhardt. Seltsam, je nach Blickwinkel wurde immer einer der beiden Toten als eine Art Pluspunkt geführt.
     
    Die Nachrichten aus Vietnam, die Bilder, die sich hinter den trockenen Bezeichnungen des Geschichtsunterrichts verbargen und die aus Filmen wie »Catch 22« in Giovannis Leben einschlugen, Angst, die bei der Erwähnung des Namens Kunolt in ihn fuhr, das Fehlen von Laura und das Fehlen allen Trostes erzeugten langsam, aber sicher einen Dauerschmerz in ihm, der, tagsüber von der Schule verdrängt, ihn nachts um so tiefer verstörte. Bald schien das Erträgliche, Banale, immer wieder so Normale in Giovannis Welt nur noch eine Lüge zu sein. Eine Fassade, hinter der sich eine schlimmere Wirklichkeit verbarg. Als hätte er ein solches Ziel angesteuert, geriet Giovanni einen Tag vor der mündlichen Mathematikprüfung beim unschlüssigen Streunen durch die Stadt in eine Spätvorstellung des Löwen-Kinos. Unter dem Titel »Das Wiegenlied vom Totschlag« hatte er sich einen Western vorgestellt, der seinen Kopf leer und müde machen würde. Aber nach einiger Zeit fand er sich, die Hände um die Sitzlehne gekrampft, in atemlosem Entsetzen auf die Leinwand starrend. Das war kein Western. Das war der Vietnamkrieg in historischer Verkleidung. Da wurde ein fliehendes Indianermädchen von einem jubelnd vorbeigaloppierenden Soldaten geköpft, da wurde in Zelte geschossen, ein Kind ins Feuer geworfen und eine Frau vergewaltigt, während man ihr die Brust abschnitt. Giovanni blieb sitzen und wußte nicht, wieso. Seine Augen waren naß. Nicht einmal vereinzeltes Lachen aus den Zuschauerreihen, Lachen bei den schlimmsten Stellen, Lachen als Begleitmusik zur Grausamkeit, das ungerührte Lachen, das ihn bis hierher verfolgt hatte, vermochte einen klaren Gedanken in seinem Kopf zu erzeugen. Er saß da in einem Matsch aus Entsetzen und wußte nicht, was tun.
    Als der Film zu Ende war, sah er keinem ins Gesicht, ging schnell, als wäre das Tempo ein Schutz vor den Bildern, wußte nicht, wie lange er nach Hause gebraucht hatte, als er sich ins Bett warf und kein Auge schloß.
    Sein übernächtigtes Äußeres fiel bei der Prüfung niemandem auf. Daß er unkonzentriert war, weil sich die Bilder der Nacht in jede entstehende Pause schoben, nahm ihm niemand übel. Er kam durch.
    So nebensächlich waren die Prüfungsfragen gegenüber dem, was er gesehen hatte, daß es schien, als antworte er erschöpft, aber souverän. Er verbesserte sich sogar um eine halbe Note. In Mathematik, seinem zweitschlechtesten Fach.
    Er ging nach der Prüfung nicht nach Hause, rief nur an, es sei wohl gut gelaufen, setzte sich dann an den Fluß und starrte durch die jungen Blätter der Weide aufs Wasser. Er hätte seinen Kopf gegen die Mauer schlagen wollen, damit ein körperlicher, ein echter Schmerz gegen diese Bilder stünde, sie vielleicht sogar besiege, aber er saß nur da und ließ auf Wasser und Weide als Leinwand diese Bilder geschehen. Da lachten die Soldaten, da lachte es im Publikum, da flog der Kopf des Kindes und quoll die Spur des Messers auf in dunklem Rot. Ich halte das nicht aus, dachte Giovanni, ich muß was tun. Er beschloß, den Film noch einmal anzusehen. Bei jedem Bild, nahm er sich vor, werde ich wissen, daß es Kino ist. Es ist künstlich, es ist ein Trick, es entspricht zwar der Wahrheit, ist sie aber nicht. Nur ein Film. Diese Bilder sind nur ein Film.
    Die Gewaltkur half. Er mußte sich zwingen hinzusehen, wußte ja schon, was kam, und löste jedes Bild in seine technische Entstehung auf. Hier war Ketchup, da ein Gegenschnitt auf die Puppe, hier ein Schnitt auf ein Wachsmodell, alles wurde Handwerk, Technik, Trick und verlor fürs erste seine Wahrheit. Zu Hause legte er sich Freddie um den Hals und schlief bis zum nächsten Morgen.
    Gegen die allzu penetrante Aufmerksamkeit, die seine Mutter ihm entgegenbrachte, wußte er sich nur durch Entziehen zu schützen. Er kam so spät zum Frühstück, daß er nur Minuten sitzenbleiben konnte, und abends erst nach Hause, wenn beide Eltern schliefen. Auch sein Vater hatte so etwas ungewohnt Gütiges, wenn sie sich zufällig

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