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Das Herz ist eine miese Gegend

Das Herz ist eine miese Gegend

Titel: Das Herz ist eine miese Gegend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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irgendwo, in der gegen die Polizistenfront anbrandenden Menschenwelle, war auch Norbert und befreite die werktätigen Massen. Gegen deren Willen, dachte Giovanni oft. Ich habe noch keinen Werktätigen gesehen, der etwas anderes als Haß für euch übrig hat. Ich sage schon »euch«, zähle mich nicht dazu. Würde ich Kunolt verpfeifen? Vermutlich nicht, aber wäre das richtig?
    Es widerstrebte ihm, sich in eine Demonstration einzureihen. Er hatte es immer geschafft, sich von Ansammlungen fernzuhalten. Er wußte nicht, ob das Feigheit oder Individualismus war. Hielt er sich instinktiv heraus oder weil es bequem war? Und wenn es ein Instinkt war, war es dann ein guter? Hatte er sich nicht großartig gefühlt, als sie beide, Paul und er, Sabine zur Flucht nach Paris verhalfen? Hatten Norbert und all die anderen Helden nicht recht, wenn sie eine Republik angriffen, die Globkes, Oberländers, Kiesingers und wie viele alte Nazis noch an oberster Stelle brauchte? Hatten sie nicht recht, wenn nie das Seelengift der >Bild-Zeitung< bekämpfen wollten? Natürlich hatten sie recht, und trotzdem mußte es ohne Giovanni gehen. Vielleicht sollte ich mitschreiben, dachte er manchmal, vielleicht bin ich als Beobachter eingeteilt und nicht als Kämpfer.
    Und dann, sofort, fand er den Begriff »Kämpfer« wieder albern. Kitschig und unangemessen war das. Pauls Worte »Das ist hier kein Faschismus« klangen ihm im Ohr. Aber war es nicht auch falsch, die RAF mit der ganzen Studentenbewegung gleichzusetzen?
    Mit diesen Gedanken wurde er nie fertig. Es gab immer eine Fortsetzung, eine Zusatzfrage, immer noch ein Argument, und meist brach er irgendwann ab mit einem inneren Schulterzucken, dem Gefühl, es eben nicht zu wissen, und dem Schimmer eines Heiligenscheins, dem Glauben, anders als alle andern zu sein und deshalb ganz allein.

 
ACHTZEHN
    Die Beatles mochten populärer als Christus sein, populärer als Bing Crosby waren sie jedenfalls nicht. Schnee fiel nur im Radio, die Weihnachtsbäume tropften. Seit dem 28. Januar war man nur noch außerhalb des Staatsdienstes radikal.
     
    Eines Tages im Februar stand Bo vor der Tür. Seine Eltern brauchten nicht zu wissen, daß er hier sei, und ob er ein paar Tage bleiben könne.
    Giovanni war froh über die Unterbrechung in der tristen Routine des Lernens, die mittlerweile seine ganze Zeit ausfüllte, froh über Bo, der überschäumend von der Welt da draußen erzählte. Er war in Hamburg, arbeitete als Kulissenschieber am Schauspielhaus, verspielte sein
    Geld beim Roulette und besuchte regelmäßig die Frauen auf St. Pauli.
    »Ist das nicht eklig?« fragte Giovanni.
    »Ganz im Gegenteil«, sagte Bo, »es ist toll.«
    Vermutlich war er François Villon, der auf die Konventionen pfiff, oder Walther von der Vogelweide in edler Minne. Giovanni jedenfalls glaubte ihm nicht. Er hielt sich lieber an sein Vorurteil, daß käufliche Liebe beschämend sei. Er gönnte es Bo, als dieser erzählte, eine Frau habe ihm sein Geld gestohlen, fast zweihundert Mark. Das schien ihm eine gerechte Strafe für die Ausbeutung dieser armen, deklassierten Person. Insgeheim aber bewunderte er die Weltläufigkeit, das großartig Lebensgierige an Bos selbstverständlichem Umgang mit den Huren. Er gab es nur nicht zu.
    Bo, der wohl spürte, daß Giovannis sittenstrenges Getue nicht echt war, berichtete jede Kleinigkeit, beschrieb die Zimmer, rekapitulierte Dialoge und sah in den Augen seines Freundes die Sehnsucht, aus der Enge des eigenen Lebens entführt zu werden.
    Sie gingen jeden Abend in den Salon der Hundert, das war das einzige Stückchen Leben, das sich Giovanni in dieser Zeit noch erlaubte, die einzige Erholung von den Büchern. Melancholisch sah er zu, wie Bo eine Frau nach der anderen um den Finger wickelte. Nur eine einzige Nacht schlief er bei ihm, in allen anderen verschwand er mit einer Neuerwählten und tauchte erst am nächsten Abend wieder auf.
    Einmal aus dem stumpfen Trott gehoben, bemerkte auch Giovanni das Zölibat, in dem er lebte, und fühlte sich spitzig, empfindlich und neidisch angesichts der Schönheiten, die Bo, wie mit Fliegenleim bestrichen, anzog. Warum der, dachte er oft, warum nicht ich? Warum nie ich? Allerdings tat er nichts, um jemandem zu gefallen. Im Gegenteil: Sobald Bo seine Fühler wieder ausgestreckt hatte, zog Giovanni alles ein, was über die Schale seiner Schüchternheit hinausragen könnte. Er machte sich selber unsichtbar, verschwand hinter Bo und verengte seinen Blick in

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