Das Herz ist eine miese Gegend
beiden Worte klangen falsch. Als hätte er sich im Ton vergriffen.
»Katharina ist tot«, sagte Bo, ohne aufzusehen, und nahm eine tränennasse Hand vom Gesicht, um sie achtlos an der Hemdbrust abzuwischen.
»Nein.« Schon wieder ein falscher Ton.
»Doch.« Bos Stimme war leise, aber ihr Ausdruck bestimmt und gestattete kein weiteres Geplänkel. Karen erzählte.
Vorgestern abend vor der Fabrik in Altona waren Bo und Katharina aus einem Konzert gekommen. Sie hatten gestritten, und Katharina riß sich los, rannte auf die Straße und direkt in einen VW-Transporter hinein. Nach dem Aufprall geriet sie unter ein Vorderrad und wurde einige Meter mitgeschleift. Bo stand regungslos. Er verharrte wie aus Eisen und sah in die Richtung der aufgeregten Menschentraube. Polizei und Notarztwagen waren schon da, als er einen Ruf hörte, das Mädchen sei tot. Er drehte sich um, ging zu seinem Wagen und raste in knapp sieben Stunden hierher. Gegen sechs Uhr läutete er Karen aus dem Bett, war weiß im Gesicht und sprach kein Wort. Karen, die zuerst annahm, er sei betrunken, machte ihm Tee und aus ihrem Mißmut über die Störung kein Geheimnis. Doch dann wurden ihr sein Schweigen und die bald danach über sein Gesicht laufenden Tränen so unheimlich, daß sie in ihn drang und nach und nach die Geschichte mit allen Einzelheiten herausbekam. Sie packte Bo in ihr Bett und ging zur Arbeit. In der Mittagspause fand sie ihn schlafend, und abends bat sie, früher gehen zu dürfen; da saß er am Tisch und trank Milch.
Auch ihr liefen jetzt wieder Tränen übers Gesicht, und Giovanni nahm sie in den Arm und sagte »Du armer Kerl« zu Bo.
Er holte sich einen Teller, und sie aßen schweigend. Bo, der seine Spaghetti nicht anrührte, schob den Teller bald von sich und sagte: »Ich muß gehen.«
»Wohin denn? Bleib doch hier«, sagte Giovanni. »Kannst im Arbeitszimmer schlafen.«
»Nein, ich muß weg.«
»Wohin?«
»Nach Stuttgart vielleicht. Zu Christian und Annette. Ich muß es ihnen sagen. Sie waren Katharinas beste Freunde, glaub ich.«
Er war nicht zu überreden, wurde plötzlich lebendig, als hätte diese neue Pflicht eine stillstehende Unruhe in ihm angestoßen. Er ging unter die Dusche, zog sich an, sagte »Vielen Dank« und küßte Karens Handrücken zum Abschied mit trauriger Galanterie.
Bedrückt und außerstande, mit sich und diesem Abend etwas anzufangen, blieben sie zurück, die Gedanken bei Bo, der von Freund zu Freund rasen wollte, um überall die Nachricht zu verbreiten.
Kein Anruf kam von ihm in den Tagen darauf, keine Zeile und auch kein Besuch. Vielleicht war er zurück nach Hamburg oder an den Bodensee zu Katharinas Eltern gefahren.
Giovanni saß vor seinem Manuskript und versuchte, Satz für Satz auf Klang und Gehalt zu prüfen, aber es fiel ihm schwer. Immer wieder schweifte er ab zu dem Bild des einsamen und schuldbeladenen Bo, dessen Entsetzen von Tag zu Tag wachsen mußte. Er hatte Angst um ihn. Angst, daß er das Auto gegen einen Baum lenken würde auf einer seiner Fahrten kreuz und quer.
Nach fünf Tagen rief er Bos Eltern an und fragte, ob sie etwas gehört hätten. Sie klangen beide bedrückt, kamen nacheinander ans Telefon, als erhofften sie sich von ihm gute Nachricht. Nein, sie wüßten auch nicht, wo er sei, er habe nichts von sich hören lassen. Dienstag abend sei er dagewesen, habe erzählt, was passiert sei, und dann nach Stuttgart gewollt. Man müsse wohl einfach abwarten, bis er sich wieder melde.
Giovanni versprach, Bescheid zu geben, wenn er etwas hörte, und legte auf.
Und sah noch tagelang Bo an einen Baum rasend, Bo in einer Großstadtkneipe, wo er sich sinnlos betrank, Bo in einem schäbigen Hotel, Bo in einem Nachtzug nach Italien, Bo immer verzweifelt, verwirrt und außerstande, sich zu fassen.
ACHTUNDVIERZIG
Seit neunzehnhundertachtundvierzig hatte das Jahr, das man jetzt schrieb, Symbolwirkung gehabt. Es war ein Synonym für die Zukunft gewesen. Die böse Zukunft. Enttäuschend, daß jetzt die Zukunft weder da war noch besonders böse. Jedenfalls nicht böser als im letzten Jahr. Das war ungeil. Oder affengeil. Je nachdem.
Nach drei Wochen hatten Bos Eltern angerufen und gesagt, Katharina sei am Leben, die ganze Geschichte erlogen, und sie wüßten nicht ein noch aus vor Empörung und Scham. Sie hatten einen Beileidsbrief an Katharinas Eltern geschrieben, und so kam die ganze Sache ans Licht. Giovanni war entsetzt, und erst nachdem er es Karen erzählt hatte, konnte
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