Das Herz kennt die Wahrheit
gehen.
Sie hatte ihn den ganzen Tag gemieden. Nicht, dass er es ihr übel nahm. Sie war der Kapitän eines Schiffes und er nichts weiter als ein einfacher Seemann, der nur deshalb angeheuert worden war, da der "Undaunted" Matrosen fehlten.
Die letzte Nacht mochte ihm wohl etwas bedeutet haben, doch für sie war es vermutlich nicht mehr gewesen als eine willkommene Zerstreuung.
Er lächelte in sich hinein. Und was für eine Zerstreuung. Sie hatte ihm den Schlaf geraubt. Dennoch war es die Sache wert gewesen. Er würde es wieder tun, wenn sich die Gelegenheit böte. Welcher Mann bei vollem Verstand hätte es nicht versucht? Er würde noch manche einsame Nacht darüber nachsinnen, wie sehr sie seine Küsse genossen hatte.
Newtons Stimme riss ihn jäh aus seinen Gedanken. "Wo seid Ihr heute nur mit Eurem Kopf, Gryf? Ich sagte, packt das Tau. Und beeilt Euch."
Unwillkürlich streckte er die Hand aus und ergriff das Seil, das ihm ein Mann auf dem Kai zuwarf. Mit einem raschen Knoten hatte er das Boot gesichert.
Newton begutachtete den einwandfreien Knoten und schaute dann den Mann an, der das Seil ohne Schwierigkeiten vertäut hatte. "Ich möchte wetten, dass Ihr so etwas schon einmal gemacht habt."
Gryf zuckte mit den Schultern. "Vielleicht. Aber ich kann mich nicht erinnern."
"Ihr mögt Euch nicht erinnern, doch ich bezweifele nicht, dass Ihr zur See gefahren seid." Newton stieg an Land. "Ich brauche nicht länger als eine Stunde. Leute, ihr habt Zeit, euch die Beine zu vertreten oder euch einen Krug in der Schenke zu genehmigen. Ich erwarte, dass ihr alle wieder hier seid, wenn ich zurückkomme."
Er schritt davon, und die Männer trennten sich. Die meisten zog es in das Wirtshaus.
Whit lief neben Gryf her, begierig auf Abenteuer. "Wohin gehen wir?"
Der Mann hob die Schultern. "Ich habe vor, zur Dorfkirche zu gehen. Vielleicht kennt der Vikar mich."
Der Junge runzelte die Stirn. Er hatte sich auf etwas Aufregenderes gefreut als auf den Besuch eines Gotteshauses. Dann aber hellte sich seine Miene auf, während er neben seinem Freund hertrottete. Es sah nach einem längeren Marsch aus, bis sie das weiße Gebäude erreichen würden, das auf dem Hügel stand. Vielleicht gab es ja auf dem Weg einen Bäckerladen, um das Loch in seinem Magen zu füllen. Schließlich hatte er immer noch die zwei Goldmünzen, die das Anheuern auf der "Undaunted" ihm eingebracht hatte. Die Gewissheit, dass er das Geld nach Belieben allein ausgeben könnte, erfreute ihn auf eine unerwartete Weise. Und das hatte er alles dem Mann neben sich zu verdanken. Wenn Gryf nicht gewesen wäre, würde er immer noch sein dürftiges Dasein fristen.
Der Gedanke an das, was er hinter sich gelassen hatte, ließ ihn erzittern.
Er dachte an den Mann, dem er in jener finsteren, verregneten Nacht begegnet war und dessen vernarbtes Gesicht ihn zu Tode erschreckt hatte. Und als Gryf mit dieser unheimlichen, heiseren Stimme gesprochen hatte, wäre er am liebsten davongelaufen.
Jetzt musste er seinem Schicksal dankbar sein, das ihn mit diesem Menschen zusammengebracht hatte. Es machte ihm Angst, darüber nachzudenken, wo er nun wäre, wenn es Gryf nicht gegeben hätte.
Freudig ergriff er die große raue Hand seines Freundes. "Weißt du, was ich denke, Gryf?"
"Was, Junge?"
"Ich glaube, auf der 'Undaunted' anzuheuern war das Klügste, was wir je gemacht haben. Und wenn ich alles über das Segeln gelernt habe, werden du und ich eines Tages auch ein so großes und feines Schiff haben. Was hältst du davon?"
"Ich denke, das ist ein schöner Traum, Whit." Gryf zwinkerte dem Jungen zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Kirche in der Ferne richtete. Auf seinem Gesicht lag ein Hoffnungsschimmer. Irgendwo musste es einen Menschen geben, der seinen Namen kannte.
Whit nahm wahr, wie sich die Miene seines Freundes veränderte, und er spürte, dass dies kein gewöhnlicher Spaziergang durch ein Dorf war. Wie so oft versuchte er sich vorzustellen, wie es für einen Mann sein musste, keine Erinnerung an die Vergangenheit zu haben.
Seltsam, dachte der Junge. Gryf versuchte verzweifelt, jemanden zu finden, der ihn kannte und ihm etwas über seine Vergangenheit erzählte. Er selbst hingegen wollte seine schmerzvolle Vergangenheit so schnell wie möglich vergessen und einen Ort finden, wo niemand seinen Namen kannte. Dann, und nur dann, wäre er vor den Schrecken sicher, die er hinter sich gelassen hatte. Hoffentlich für immer.
Darcy saß an dem kleinen
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