Das Herz kennt die Wahrheit
samtenen Dunkelheit funkelten, nicht mehr sehen zu müssen. Denn der Anblick schien sie zu verhöhnen. Genau wie der Mond, der matt und rund am Himmel leuchtete.
Sie konnte nicht leugnen, dass es wundervoll gewesen war, von Gryf in den Armen gehalten zu werden. Seine Küsse hatten ihr schier den Atem geraubt. Sie hätte glücklich sein sollen.
Doch noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so elend gefühlt.
5. Kapitel
Als der Junge die leisen Schritte hörte, setzte er sich im Dunkeln auf. "Bist du das, Gryf?"
"Ja, Whit."
"Was hast du oben an Deck gemacht?"
"Geraucht. Die Sterne beobachtet." Den Kapitän geküsst. Und mehr gewollt als nur ihre Küsse. Mehr als alles andere in der Welt hätte er sie am liebsten dort oben auf der Stelle genommen.
Der Gedanke ließ ihn zusammenzucken. Was hatte er sich nur dabei gedacht?
"Warum magst du die Nacht, Gryf?"
"Weil mich dann niemand sehen kann. Jetzt schlaf, Whit."
"Ja. Dazu musst du mich nicht überreden." Der Junge rollte sich auf die Seite und lauschte auf den dumpfen Klang der Stiefel und das leise Rascheln, als sein Freund in die Hängematte kletterte.
Plötzlich machte er sich die Bedeutung von Gryfs Worten bewusst und setzte sich auf. "Du meinst, du versteckst dich?"
"So ungefähr."
"Du brauchst dich nicht im Dunkeln zu verstecken, Gryf. Niemand starrt dich an."
Der Mann schien anderer Meinung zu sein, denn er stieß einen missmutigen Laut aus.
"Das tun sie nicht, Gryf, wirklich. Sie wissen, dass du Verbrennungen hattest und dass du eines Tages wieder ganz gesund bist. Aber sie stieren dich nicht an. Nun … abgesehen vielleicht vom Captain. Doch du schaust ihn auch oft an, wenn du dich unbeobachtet fühlst."
Die Worte des Jungen berührten ihn zutiefst. Er hatte nicht damit gerechnet, dass seine Blicke einem anderen an Deck aufgefallen waren. Es ließ sich nun mal nicht ändern. Darcy war eine faszinierende Frau.
"Das reicht, Whit." Sein Tonfall war schroffer als beabsichtigt. "Schlaf jetzt."
"Aye." Der Junge legte sich wieder hin und machte es sich gemütlich. Binnen Minuten war sein Atem tief und gleichmäßig.
Gryf faltete die Hände hinter dem Kopf und starrte auf den schwachen Mondstrahl, der durch das Bullauge des Mannschaftsquartiers fiel.
Er konnte nicht leugnen, dass er gleich beim ersten Anblick von Captain Darcy Lambert hingerissen gewesen war. Welchem Mann wäre es anders ergangen? Sie war so vollkommen wie eine Porzellanfigur. Mit weichem goldenem Haar und Augen, die so blau wie das Meer leuchteten. Als ob das noch nicht genug gewesen wäre, verwandelte sie sich zudem in einen wunderschönen, schillernden Schmetterling, der hoch oben in den Wanten flatterte. Wenn sie bis in die äußerste Mastspitze kletterte, schien sie auf den Tauen und Segeln zu tanzen.
Er liebte es, sie zu beobachten. Die Art, wie sie sich bewegte, mit einer unerschöpflichen Kraft. Die Art, wie sie das Schiff auf Kurs hielt, auch wenn die Winde sie über Bord zu wehen drohten.
Klein und zerbrechlich sah sie aus. Doch unter dem zierlichen Äußeren verbarg sich eine ungeheure Stärke. Sie lag in ihren Augen, in ihrer Stimme, in der Art und Weise, wie sie ein Schiff mit Männern befehligte, die doppelt so groß waren wie sie selbst.
Sie besaß eine Furchtlosigkeit, die ihn tief berührte. Was für eine großartige Gefährtin könnte sie doch für einen Mann sein, der mutig genug wäre, ihr Herz zu erobern.
Eine Gefährtin. Er hatte nicht das Recht, so zu denken. Abgesehen von den Narben in seinem Gesicht und auf seinem Körper sprach noch etwas dagegen, das viel bedeutender als die Entstellungen war. Es war durchaus möglich, dass er bereits eine Frau und Kinder hatte, die irgendwo auf ihn warteten. Solange er nicht wusste, wer er war und woher er stammte, hatte er nicht das Recht, einer Frau nachzustellen, mochte sie auch so hinreißend sein wie Captain Lambert.
Dennoch, allein der Gedanke an ihre süßen Lippen brachte sein Blut zum Kochen. Wäre sie eine der Frauen, die leicht zu haben waren, könnte er einfach den Augenblick genießen und sein Vergnügen haben, bevor er sich wieder auf die Suche nach sich selbst begab. Doch sie war zu lieblich und zu unschuldig, um auf diese Weise ausgenutzt zu werden. Und obgleich er nicht wusste, was für ein Mann er einst gewesen war, so hoffte er doch, dass er sich auch früher nicht das genommen hatte, was ihm nicht zustand.
Er glaubte nicht, dass er sich vor seinem Unfall nach jedem Weiberrock umgedreht hatte.
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