Das Herz meines Feindes
zuerleben. Und wenn sie diesen Spießr u tenlauf hinter sich hatte, würde sie sich immer noch ihrem Vater und ihren hochwohlgeborenen Gästen stellen müssen.
Während sie über den Schlosshof ritten, folgte ihnen das leise Flüstern der Schlossbewohner. Lillianes Wangen brann ten und ihre Augen glänzten, so kurz war sie davor, in Trä nen auszubrechen. Aber sie weinte nicht. Sie hielt den Kopf hoch erhoben und den Rücken gerade, als sie in den Ein gangsbereich der großen Halle ritten.
Ihr Vater war nicht dort, um sie zu begrüßen, und sie konnte sich nur fragen, wie schrecklich sein Zorn auf sie war. Aber Odelia war da, und ihr entsetzter Gesichtsaus druck schnitt Lilliane ins Herz. Sie und die anderen Frauen wichen vor offensichtlicher Abscheu zurück, als die Ritter mit der widerspen s tigen Lilliane vor ihnen halt machten.
Lilliane wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie war fast bereit, vom hohen Rist des alten Kriegsrosses ohne Hilfe hinabzugleiten, als sich eine Hand nach ihr ausstreckte.
Sir Corbett stand respektvoll vor ihr, ein Muster an höfi schen Manieren und galantem Betragen. Lilliane stockte der Atem, als sie voller Überraschung zu ihm hinunterblickte. Tatsächlich schien die ganze Gesellschaft mit angehaltenem Atem auf ihre Reaktion auf seine Geste zu warten.
Ein Teil Lillianes wollte ihn ignorieren, seine Hand wegschlagen und ihm seine Manieren in sein arrogantes Gesicht schleudern. Aber sie hatte noch einen langen Weg durch die tadelnde Menge vor sich. Sie war sicher, dass jeder von ihrem Ungeho r sam wusste, und obwohl vielleicht viele insgeheim nicht mit der Entscheidung ihres Vaters einversta n den waren, waren sie doch in ihrer Überzeugung einig, dass eine Tochter dem Willen ihres Vaters immer zu gehorchen hatte.
Ihre Unentschlossenheit stand ihr wohl ins Gesicht ge schrieben, denn Sir Corbett trat näher an sie heran, bis seine Brust ihre bloßen Füße berührte.
»Wenn du wirklich die Herrin hier sein willst, dann musst du diese Prüfung bestehen, die sie dir bereiten«, murmelte er leise, so dass nur sie es hören konnte. »Nimm meine Hand, und lass uns eine starke und gemeinsame Front gegen diese Gesellschaft bilden.«
Sie wollte seine Hände nicht ergreifen. Sie wollte ihn nicht berühren oder ihm nahe sein oder… oder eine starke und gemeinsame Front mit ihm bilden. Während der ganzen un behaglichen Stunden auf dem Rückritt wurde sie von den Erinnerungen an das heimgesucht, was er und sie in der be scheidenen Hütte getan hatten. Egal, wie sehr sie sich wünschte, es zu vergessen oder sich vorzumachen versuch te, dass es nur ein Traum gewesen war, sie brauchte den breitschultrigen Ritter, der die Männer anführte, nur anzuse hen, um zu wissen, wie real es tatsächlich gewesen war. Und ein merkwürdiges Beben durchfuhr sie, ließ sie im Innersten erzittern und stürzte sie in einen wirbelnden Strudel aus wi de r streitenden Gefühlen.
Als sie jetzt in dieses dunkle, ernste Gesicht blickte, fragte sie sich, was hinter diesen schiefergrauen Augen vor sich ging. Mit einem Seufzer straffte Lilliane die Schultern. Ihre Augen glitten ein letztes Mal über die Menge der Zuschauer, bevor sie ihm zögernd die Hand gab. Einen elektrisierenden Augenblick lang verharrten sie in dieser Stellung. In scheinbarem Waffenstillstand reichten sie einander die Hände und waren sich doch der schrecklichen Feindschaft – und mäch tigen Anziehungskraft – zwischen ihnen voll bewusst.
Dann legte er mit einer leichten Bewegung seine Hände um ihre schmale Taille, und sie beugte sich zu ihm hinab, ihre Hände auf die Schultern gestützt. Er setzte sie keineswegs schnell auf dem Boden ab. Statt dessen schien er den Augen blick hinauszuzögern, bis ihr das Herz wild im Busen poch te. Als er sie schließlich doch auf die Füße gesetzt hatte, schob er geschickt ihre Hand unter seinen Arm und führte sie in die große Halle.
Keiner von beiden warf mehr als nur einen flüchtigen Blick auf die Versammlung, um festz u stellen, dass Lord Bar ton nicht dort war, um sie willkommen zu heißen. Corbett führte Lilliane geradewegs in ihr Gemach, sein Gesichtsaus druck erstickte jegliche Unterbrechung im Keim. Als sie dort waren, wandte er sich ihr zu und legte seine Hände auf ihre Schultern.
»Ich werde gleich mit deinem Vater sprechen. Du wirst dich derweil auf unsere Hochzeit vorbereiten.« Eine seiner Hände streichelte ihr dickes, vom Wind zerzaustes Haar. »Obwohl es nicht mehr der Mode
Weitere Kostenlose Bücher