Das Herz von Veridon: Roman (German Edition)
hervor. »Sie haben es satt, zu warten, Kumpel.«
Ich hustete und wischte mir über den Mund. Das würden sie nicht wagen – nicht, bevor sie mich hatten. Eine Angelschnur ohne Köder ist bloß ein leerer Faden. Das Geschrei setzte sich fort, deutlich und ungekünstelt.
»Na schön, wir müssen … Wir müssen uns organisieren. Wir können zusammen reingehen und …«
»Von wegen, Söhnchen. Du hast gesagt, sie warten bereits.« Er zog sein Messer und lud eine weitere Patrone in sein Kurzgewehr. »Ich schlage mich zu den vorderen Toren durch, in die Nähe der Stelle, wo wir reingekommen sind. Dort mache ich viel Radau, als ob wir versuchen, auszubrechen. Du holst inzwischen Emily und schaffst sie raus.«
»Kämpf dich zu den Docks der Luftschiffe vor. Dorthin gehe ich, sobald ich Emily habe. Zur Vordertür kommst du niemals raus.«
»Wahrscheinlich«, gab er zurück. Damit rannte er den Korridor entlang los. Ich wartete, bis ich vereinzelte Schüsse hörte, dann lief ich über die große Wendeltreppe zum Hauptgeschoss und begann, mich leise zu den abgeriegelten Gängen des Kellers vorzuarbeiten.
Die Flure waren noch genau so, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ein kindischer Teil meines Gehirns fühlte sich wieder wie ein Schuljunge, der sich unerlaubt zwischen den Klassenzimmern befand. Es war ein lächerliches Gefühl. Die umherstreifenden Patrouillen waren nun, da Wilson über mir ein solches Spektakel veranstaltete, so gut wie verschwunden. Ich kam ungehindert voran.
Der abgeriegelte Bereich war immer noch abgeriegelt, aber unbewacht. Ich brach die Tür auf. Der Korridor dahinter war dunkel und still. Ich schlich hinein, sicherte die Tür hinter mir und marschierte mit dem Revolver in der Hand los.
Als ich noch Kadett war, hatten meine Kommilitonen und ich in unserer Freizeit oft über diese Bereiche gerätselt. Der verbreitetsten Mythologie zufolge stellten sie Kerker dar oder beherbergten ein verscharrtes Geheimnis der Akademie, das nie das Licht der Welt erblicken durfte. Wir sahen niemals jemanden durch diese Türen hinein- oder herausgehen. Sofern es sich um ein Labor handelte, wie mein Vater behauptete, musste es andere Eingänge geben – Eingänge, die ich nicht kannte.
Im Gegensatz zur restlichen Akademie bestanden die Mauern hier aus Stein. Außerdem gab es weniger Wandleuchten. Wie verrichteten die Forscher ihre Arbeit in derart fürchterlicher Düsternis? Es dauerte nicht lange, bis ich den Revolver beiseitelegen und die kleine Handlampe, die ich mitgebracht hatte, zusammenbauen musste. Als sie schließlich brannte, war ihr weicher gelber Schein die einzige Beleuchtung ringsum.
Die Luft roch nach zermanschten Käfern. Es war ein vertrautes Aroma, doch ich konnte es nicht einordnen. Ich stieg eine Treppe hinab, dann ging ich durch eine Eichentür, die sich auf gut geölten Angeln mühelos öffnen ließ. Dahinter befand sich ein Raum, der wie ein kleiner Dom anmutete. An den meisten Wänden erstreckten sich in regelmäßigen Abständen Regale bis ganz nach oben, gefüllt mit Bücherstapeln, Glasröhren, defekten Gerätschaften und noch seltsamerem Gerümpel. Nahe der kuppelartigen Decke befanden sich Öffnungen, die wie Bogenfenster aussahen; sie schienen zu Tunneln oder tiefen Nischen zu führen, doch ich konnte keinen vernünftigen Weg dorthinauf erkennen.
Die Mitte des Raums war leer, der Boden glatt und staubfrei. Eine nähere Begutachtung der Mauern offenbarte vereinzelte Handgriffe, allerdings in zu großem Abstand und zu unregelmäßig angeordnet, um die Wände zu erklimmen.
Ich stellte meine Lampe auf ein Regal und begann, den ganzen Krempel zu durchsuchen. Weder Emily noch Sloane schienen hier zu sein. Die Stapel auf den Regalen waren interessant, wahrscheinlich geheimnisvoll, aber nicht das, wonach ich suchte. Ich drehte eine rasche Runde durch den Kuppelraum und wunderte mich über die sonderbaren Haltegriffe und die scheinbar unzugänglichen oberen Regale und Tunnel.
Hier war niemand. Aber wo dann? Wilson und ich waren im Großteil der restlichen Akademie gewesen, hatten für Ablenkung gesorgt und die Wachen weggelockt. Ich hatte gedacht, dass wir sie von diesem Ort abzogen, doch dem war eindeutig nicht so. Wir waren überall gewesen, außer …
Die Docks. Die Docks ganz oben auf der Akademie, wo die nicht angezündete alte Signalflamme stand und wo die Luftschiffe ankamen und abflogen. Wo Wilson hingegangen war, um die Wachen wegzulocken. Er steuerte geradewegs auf sie zu,
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