Das Herz von Veridon: Roman (German Edition)
genau dorthin, wo sie warteten.
Ich eilte zur Tür hinaus. Dabei vermeinte ich, flüchtig etwas zu sehen, ein langes fahles Gesicht, die großen Augen genauso albinoweiß wie die Haut. Es starrte aus einem der Tunnel auf mich herab. Ein zweiter Blick offenbarte nichts, nur Bücher, ein Glas und Spinnweben. Der Raum war verwaist, und Wilson steckte in Schwierigkeiten. Ich rannte die Treppe hinauf.
Die höhlenartigen Hangars der Docks nahmen das oberste Geschoss der Akademie ein, riesige Holzbauten, die wie eine falsche Krone auf dem uralten Stein des Ortes kauerten. Sie bildeten einen groben Halbkreis um die Startkräne in der Mitte. Auf einer leichten Felskuppe in der Mitte ragte über die Kräne das Gebilde auf, dem das Viertel seinen Namen verdankte: das Fackellicht.
In den frühen Tagen Veridons gab es auf dem Felsen eine Garnison. Sie diente zum Schutz vor Gebirgsräubern, die auf dem Weg nach Osten die Ebenen überquerten, oder vor Flusspiraten, die sich aus den Fürstentümern flussaufwärts den Weg mit der Strömung bahnten. Zur Warnung der Soldaten unten zündeten die Mitglieder der Garnison die Fackel an, damit sich jeder rechtzeitig in die befestigten Teile der Stadt begeben konnte.
Mit der Gabe des Flugs wurde unser Wachdienst lasch. Das ursprüngliche Gebäude aus Eisen und Stein war durch einen Kreis aus gehämmertem Messing ersetzt worden, eine niedrige Mauer, deren Linien an Feuer und Rauch erinnerten. Der Scheiterhaufen wurde nicht mehr trocken und mit Holz bestückt gehalten, und die Ehrengarde stand nicht mehr mit einsatzbereiten Dochten und Feuersteinen daneben, um den Alarm auszulösen. Veridon näherten sich keine Armeen mehr, über den Reine kreuzten keine Beutefahrer mehr.
Dort oben befanden sie sich, zwei Hand voll Ordnungshüter sowie einige andere Gestalten, die sich vor dem Regen zu schützen versuchten. Ich konnte sie nur dann sehen, wenn das Unwetter Blitze spuckte. Sloane war unter ihnen, ebenso Wilson, gefesselt und blutig. Und ich erkannte noch etwas, das dort kauerte, wo die Fackel sein sollte, und den Messingkreis mit einer dunklen, komplexen Gegenwart ausfüllte.
Ich schlich mich so nah wie möglich hin, blieb bei den Hangars. Jedes Gebäude enthielt ein wegen des Sturms festgezurrtes Luftschiff. Von den Besatzungen fehlte jede Spur. Der Wind peitschte gegen die dünnen Holzwände, die Luftschiffe schaukelten träge in ihren Liegeplätzen.
Die Wachen blieben in Wilsons Nähe, fluchten und brüllten im Windschatten der alten Fackel seine zusammengesackte Gestalt an. Sloane lief im Kreis und behielt dabei den Himmel im Auge. Alle schauten immer wieder nach oben und dann den Hügel hinab zu den Gebäuden, wo ich mich versteckte. Sie warteten auf etwas. Vermutlich auf den Engel. Und wo steckte Emily?
Etwas jaulte, und ein Funke stob von der Stelle der Fackel auf. Die dort lauernde Dunkelheit wurde erhellt, und eine Sekunde lang sah ich ein flüchtiges Standbild. Ein Körper, der mit ausgestreckten Gliedmaßen dort hing, und eine Maschine aus Messing und gewickeltem Draht. Emily. Die Aufmerksamkeit der anderen galt der Mitte, der Fackel. Ich holte tief Luft und schätzte die Entfernung ab, dann überprüfte ich meinen Revolver und nahm Emilys Schrotflinte in die andere Hand. Sloane tauchte wieder auf und brüllte zornig die Männer an, die rings um Wilson Wache standen. Sie zuckten zusammen, dann rannten sie den Hügel hinunter auf die Kasernen zu. Sloane schaute ihnen kurz nach, bevor er sich wieder der Fackel zuwandte und mir den Rücken zukehrte.
Geduckt kletterte ich vorwärts, nutzte die Neigung des Hügels zu meinen Gunsten. Sloane brüllte erneut etwas in Richtung der Fackel und schlenderte gemächlich darauf zu. Jetzt. Jetzt oder nie. Ich richtete mich auf und rannte los. Der Regen stach mir wie mit eisigen Nadeln eine Tätowierung ins Gesicht, rings um mich toste der Sturm. Kein Laut von der Fackel. Wilson bemerkte mich, nickte und senkte den Kopf.
Ich hob die Pistole an und rannte weiter.
Ich stürmte auf ihn zu. Meine Füße hämmerten auf den Boden ein, das Unwetter trieb mich voran. Ich war so leise, wie man in vollem Lauf sein konnte – der Sturm übertönte den Lärm, den ich veranstaltete, mühelos. Dann entdeckte mich jemand. Ein Schrei erhob sich, gefolgt von Schüssen. Eine Kugel sauste an mir vorbei, schnellte durch die Luft, eine weitere streifte meine Jacke. Sloane drehte sich um und brüllte etwas, bevor er auf die Fackel zuwankte. Ich hob die Pistole
Weitere Kostenlose Bücher