Das Herz von Veridon: Roman (German Edition)
einer solchen Menschenmenge zu tosendem Gebrüll. Der Konzertsaal bestand aus einem engen Kreis, konzentrischen Ringen aus Samtsitzen, die stufenförmig um eine polierte Holzbühne anstiegen. Das Mädchen wurde in die Mitte geführt. Das Licht der Reibungslampen gleißte auf ihrem weißen Kleid. Mehrere Diener machten sich an der Ausrüstung zu schaffen, die neben der Bühne aufgebaut worden war. Neben mir saß ein junger Mann, eigentlich noch ein Kind, der Sohn irgendeines Admirals. Er lehnte sich in dem Versuch zu mir, besser zu sehen.
»Was machen die da? Ist das da unten das Sommermädchen?«
Ich blickte auf das zierliche weiße Mädchen hinab, das sich allein auf der Bühne befand. »Nein, aber sie wird es. Du wirst es gleich sehen.«
Die Mutter des Jungen tätschelte seinen Arm. »Seine erste gesellschaftliche Veranstaltung«, flüsterte sie. »Er ist sehr aufgeregt.«
Ich nickte. »Er weiß doch Bescheid, oder? Er wird sich nicht fürchten, richtig?«
Der Junge sah mich mit lebhaften grünen Augen an und schüttelte entschieden den Kopf. Seine Mutter lächelte.
»Oh«, stieß der Junge hervor und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Bühne. Rings um uns war Stille eingekehrt. »Oh.«
Ich drehte mich um und schaute hinunter. Die Schöpfer näherten sich dem Mädchen mit einem Gefäß. Es war aus Glas, und der dunkle Inhalt schien sich zu winden. Das Mädchen schloss die Augen und öffnete den Mund. Ich konnte flüchtig die Spulen ihrer Maschine erkennen. Sie hatte wunderschöne Lippen, voll und glänzend wie Glas, und sie bebten. Ich fragte mich, ob sie Angst hatte.
Der Meisterschöpfer war ein großer Mann mit Armen, die sich so flüssig bewegten, als bestünden sie nur aus Gelenken. Er tauchte die Hände in das Gefäß und holte etwas Glänzendes daraus hervor. Den Fötus der Königin. Er legte ihn auf die Zunge des Mädchens und trat zusammen mit dem Rest der Gildenmitglieder zurück. Das Mädchen riss die Hände an die Kehle und schlug die weißen Augen weit auf. Gleich darauf gab sie einen Laut von sich, der halb wie ein Husten, halb wie ein Keuchen anmutete. Die Mutter des Jungen ließ ein angewidertes Geräusch vernehmen und wandte das Gesicht ab. Der Rest des Publikums verlagerte unbehaglich das Gewicht.
Es geschah plötzlich. Die Schöpfer stellten das Gefäß auf den Boden und kippten es um. Der Schwarm ergoss sich daraus wie glitzernder Honig. Die winzigen Beine klickten über das Holz, als sie die Bühne überquerten. Sie erklommen die junge Frau und begannen, sich in ihr einzunisten, zu ihr zu werden, in die geheimen Maschinen einzudringen, aus denen das Engramm bestand. Sie suchten ihre Königin und deren Muster, das in ihre Hülle und in ihr Gedächtnis eingebrannte Lied, das auf seine Geburt und Schöpfung wartete. Das Mädchen schauderte, und dann setzte die Verwandlung ein.
Sie schaute auf und ließ den Blick über das Publikum wandern. Ich hatte schon länger keine Aufführung von Das Sommermädchen mehr gesehen, tatsächlich seit meinen Tagen in der Akademie. Doch da war sie, unverkennbar. Sie stand vor dem Publikum als herrsche sie darüber, als existierten diese Leute gar nicht, wenn sie sich nicht auf der Bühne befand, und wenn sie es tat, dann gab es die Menschen nur, um ihr zu huldigen. Das Mädchen hatte diese gewisse Pose, vermittelte durch die Haltung von Rücken, Kinn und Schultern den Eindruck, als erhebe es Anspruch auf den Landsitz der Tombs. Der Schwarm nährte sich von ihr, gestaltete sie vor unseren Augen um. Ihre Haut erbleichte, die Wangenknochen wurden flacher und höher. Die perfekten Lippen wurden voller und waberten während der Veränderung. Ihr Körper wuchs, ihr Haar schimmerte und wechselte die Farbe, ergoss sich über ihre Schultern. Mittlerweile wirkte sie älter, draller, die Hüften und Brüste, die einer Frau. Das Publikum schwieg und staunte.
Vor uns stand das Sommermädchen, noch vollkommener als an jenem weit in der Vergangenheit liegenden Tag. Sie hob einen Arm in unsere Richtung, nickte Lady Tomb auf deren Ehrenplatz zu und begann schließlich zu singen. Die perfekte, wunderschöne Stimme fühlte sich wie ein weicher Hammer in meinem Kopf an. Dieser kleine Saal vermochte nicht, sie einzufangen, und die Gebeine des Bergs rings um uns vibrierten mit ihrem Lied. Wie immer bei Das Sommermädchen konnte ich mich danach weder an Worte noch an Melodien erinnern. Nur an eine warme Pracht und an Frieden, die mein Herz erneuerten, durch meine Knochen
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