Das Herz von Veridon: Roman (German Edition)
umstellen.
»Meine Herren«, sagte ich angespannt und hechtete mitten hinein in ihre Ränge. »Entschuldigung.«
Sie streckten die Arme nach mir aus und hätten mich zu fassen bekommen, doch der Engel bahnte sich durch sie hindurch einen Weg zu mir. Zwei der Männer fielen; ihre Knochen krachten wie Feuerwerkskörper, als er sie rammte. Gebrüll ertönte, und ich rannte los.
Ich nahm die erstbeste Treppe, obwohl sie nach oben führte und sich alle Ausgänge unten befanden. Panik. Das nächste Stockwerk war abgeriegelt, aber ich brach die Tür auf. Hier herrschte Stille, und es roch nach Schimmel und Leinen. Schritte polterten im Stockwerk unter mir, weitere Leute, die zu dem Desaster aufmarschierten. Schüsse knallten, gefolgt von den grausigen Geräuschen berstender Knochen. Ich lief leise zu einem Zimmer und huschte hinein.
Der Raum erwies sich als leer, enthielt nur einen stark abgewetzten Läufer und ein Fenster. Das Unwetter wütete nach wie vor. Die Kampfgeräusche hatten nachgelassen, konnten aber auch nur vom Wind und Regen hinter mir gedämpft worden sein. Ich kniete mich hin und fingerte zwei neue Patronen in den Revolver. Schwer atmend verharrte ich. Abgesehen vom Regen, der gegen das Fenster prasselte, herrschte Stille. Ich verlagerte das Gewicht, um gleichzeitig die Tür und das Fenster im Auge behalten zu können.
Mein Blick senkte sich auf die Waffe. Hatte er sie geschickt? Er war an Bord des Luftschiffs gewesen und konnte über Marcus Bescheid wissen. Aber wenn er vorhatte, mich anzugreifen, warum sollte er mich dann bewaffnen? Andererseits schienen ihn die Schüsse nicht verletzt zu haben. Ich überprüfte die Trommel, um festzustellen, ob die eingelegten Patronen Attrappen waren, so etwas wie Bühnenmunition. Ich leerte sie auf meine Handfläche, drehte sie mit dem Daumen herum, untersuchte sie im trüben Licht, das durchs Fenster fiel. Die matten Messinghülsen sahen ziemlich echt aus.
Aus dem Flur ertönte ein Rumpeln. Mir stockte der Atem, und ich begann, die Pistole zu laden, so leise ich konnte. Die Patronen rutschten in meinen schweißnassen Fingern, als ich sie mühsam in die Kammern schob. Ich vernahm Schritte und das an knirschendes Laub erinnernde Schaben seiner Flügel an den Wänden und an der Decke. Ich schaute auf, stellte fest, dass ich vergessen hatte, die Tür zu verriegeln, und ließ eine Patrone fallen. Hastig hob ich sie auf, steckte die Hand voll loser Geschosse und den Revolver in meine Jackentasche und rannte zum Fenster. Der Engel befand sich vor der Tür – und das Fenster war sturmsicher verriegelt.
Ich schleuderte mich mit der Schulter voraus dagegen, und das Glas splitterte. Die Scheiben bogen sich durch wie ein Netz. Nach einem zweiten Versuch brachen ein paar Scheiben und schnitten meine Jacke und meine Haut auf. Der Engel öffnete die Tür und stürmte herein. Ich prallte gegen das Fenster, er prallte gegen mich, und wir stürzten zu zweit hinaus in den Sturm.
Als wir das Schieferdach hinabkullerten, trat ich aus und landete einen Glückstreffer. Wir lösten uns voneinander, und ich schlang einen Arm um einen Schornstein. Aus mir strömte Blut, Verletzungen vom Fenster und vom kurzen Kontakt mit dem verheerenden Arm des Engels. Ich drehte mich herum, versuchte, ihn zu finden, sah jedoch nur das tobende Unwetter. Etwas stimmte nicht mit meiner Schulter, und ich spürte, wie sich mein Griff löste. Ein Blitz zuckte, und ich erblickte auf mich zustürzende Schwingen. Ich ließ los.
Ich schlitterte das Dach hinunter, kam gerade noch von dem Schornstein weg, bevor der Engel dagegenprallte. Über mir ertönte ein dumpfer Knall. Schiefersplitter schossen an mir vorbei. Das Dach erzitterte. Ich grub die Finger in Überlaufschindeln, streckte mich nach vorbeisausenden Schornsteinen. Mit einem Ruck segelte ich über die Dachkante. Ich fiel und brüllte die gepresste Luft aus meinen Lungen. Als ich aufschlug, knickten meine Beine ein, dann brach etwas und verwandelte sich in einen Schauer aus Glas und noch mehr Blut. Ich fiel weiter.
Mein Sturz endete im großen Saal. Ich blutete rot und schwarz; das Öl aus meinem innersten Herzen vermischte sich mit meinem gewöhnlichen Blut. Hoch über mir konnte ich das zerbrochene Dachfenster sehen, durch das eine schmale Regensäule hereinprasselte. Flügel blitzten auf, wurden angelegt. Der Engel zwängte sich durch die Öffnung.
Ich rappelte mich auf. Am gegenüberliegenden Ende des Raums herrschte Tumult – eine Menge
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