Das Herz
verschwunden waren. Rafe hatte das Boot am Ende des Stegs festgemacht und wartete auf Barrick und Saqri.
Als sie die Leiter hinabstiegen, erkannte Barrick, was der Kasten im Bug des Fischerboots war: eine Art Transportbehältnis für Herzog Ketelhut und seine Gesandtschaft — die gesamte Bevölkerung von Neudachland, wie es aussah, vielleicht hundert der winzigen Leutchen, alle auf Bänken aus flachen, langen Holzstücken sitzend, ihre Kinder auf dem Schoß und ihre Habseligkeiten zu ihren Füßen.
Beim Einsteigen akzeptierte Saqri wieder Hilfe von Rafes stützender Hand, was Rafe sehr stolz zu machen schien. Barrick schaffte es aus eigener Kraft ins Boot und quetschte sich neben sie auf die Bank, etwas eingeschüchtert durch ihre Nähe. Er roch ihren feinen, ganz und gar individuellen Duft, Blüten und Zimt und noch eine dunklere, kräftigere Note, würzig und bitter wie Tempelharz.
Sie glitten leise aus der Höhle. Rafe ruderte kraftvoll und mühelos, und die ängstlichen Dachlinge taten ihr Bestes, sich trotz des Schaukelns auf ihren Plätzen zu halten. Die Sonne stand schon sehr tief, und Barrick fragte sich, wie sie so lange dort drinnen gewesen sein konnten, wenn es sich doch nicht mal wie eine Stunde angefühlt hatte. Als sie den nördlichsten Zipfel des M'Helansfels erreichten, versank die Sonne bereits hinter den Bergen westlich von Südmark. In einer seichten Bucht warteten sie, bis nur noch ein letztes Glühen hinter den Hügelkuppen übrig war, und glitten dann aufs offene Wasser hinaus.
Die Letzte Stunde des Ahnherrn,
flüsterte eine Stimme über das Murmeln des Feuerblumenchors hinweg.
Ich habe diesen Ort seit dem Tag meiner Pilgerfahrt nicht mehr gesehen — außer im Traum.
König
Ynnir?
Seid Ihr's wirklich?
Die Stimme kam von fern, wie von jenseits des Wassers.
Du hast mich zurückgerufen, Menschenkind. Ich konnte nur . . .
Einen Moment lang hatte Barrick das Gefühl, dass etwas Stück für Stück wieder zusammengesetzt wurde — etwas, das lieber in Stücken gewesen war.
Ich bin hier.
Und er war da, kräftiger als alle anderen Stimmen, kohärenter. Der König war da, jetzt Teil von Barricks Fleisch und Blut.
»Und jetzt kehren wir endlich zurück, Geliebter«, sagte Saqri laut, und Barrick erschrak, bis ihm aufging, dass sie nicht zu ihm sprach — nicht direkt jedenfalls. »Endlich und am Ende.«
»Das Ende einer Sache ist der Beginn einer anderen«, hörte sich Barrick sagen, doch obwohl es der tote König war, der da sprach, fühlte es sich nicht an, als ob sich da jemand seine Stimme aneignete, sondern nur wie eine Hilfestellung, etwas zu sagen, das er selbst gern gesagt hätte, hätte er die Worte gefunden.
Die Feuerblumenstimmen verstummten. Selbst die in ihrem Kasten zusammengedrängten Dachlinge flüsterten unhörbar leise. Eine ganze Weile hörte Barrick nur das stete, sanfte Geräusch der Ruder, und er fühlte, wie er in eine Art Zwischenreich hinüberglitt, das weder das Hier und Jetzt war noch irgendeine andere Zeit, so als befänden sie sich zwischen Welten — was in gewisser Weise auch stimmte, dachte er. Alles, was gewesen war, lag endgültig hinter ihm. Alles, was sein würde, lag vor ihm. Würde es das Ende der Welt sein, wie viele um ihn herum zu glauben schienen?
Vielleicht. Das war alles, was er wusste.
Er hörte einen leisen Klang, so leise zunächst, dass er ihn nur für ein weiteres Element der Musik der Bucht und der Bootsbewegung hielt. Aber es war nicht einfach nur das Geräusch des Wassers, sondern eine verschlungene, exotische Melodie. Dann hörte er Worte oder fühlte sie in seinem Kopf — in diesem Moment schien da kein Unterschied.
»Ich bin alle meine Mütter.
Ich bin gefährlich! Ich bin schön!
Und alle meine Töchter bin ich auch ...«
Es war Saqri, merkte er: Sie sang mit einer feinen, klaren, wie gehämmertes Silber klingenden Stimme. Die Melodie kreiste und kreiste, begann immer wieder von vorn, ohne jemals zu enden, wie eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt.
»Ich bin der Schwan des diesseitigen Ufers!
Ich bin die Lampe, die den Weg erhellt!
Ich bin der Eisenvogel, der beendet, was nicht sein soll!
Gebt mir meine Krone!
Gebt mir meine Krone!
Gebt mir meine Krone!«
Ihre Stimme war lieblich und leise, aber nicht beruhigend — es war kein Wiegenlied. Es war vielmehr ein Gesang, der so alt war, dass Barrick ihn schon fast in seinem Mark widerhallen fühlte, jeder Ton ein Jahrhundert, jedes Jahrhundert anders und doch dem vorangegangenen
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