Das Herz
der trotz des Schmerzes zu denken vermochte, wusste, dass er ein wüster Anblick sein musste. Auch wenn sie die Echtheit der Dokumente nicht in Zweifel ziehen würden, mussten sie sich doch fragen, ob er sie dem echten Bevollmächtigten gestohlen hatte.
»Hört zu«, sagte er, und es fühlte sich wie ein enormer Kraftakt an, ruhige, vernünftige Worte hervorzubringen. »Ich habe im Dienste des Autarchen Schweres erlitten. Ich habe überaus wichtige Informationen für ihn, die er
sofort
erhalten muss. Ich habe dem Goldenen rückhaltlose Treue geschworen. Wenn ihr euch weigert, mich zu seinem Heerlager zu bringen, bleibt mir keine andere Wahl, als euch alle zu töten und eure Herzen und Lebern zu essen, damit ich die Kraft habe, über die Brennsbucht zu schwimmen.«
Irgendetwas an seiner Rede musste überzeugend gewesen sein. Als das Schiff mit der Abendflut Onir Beccan verließ, war Vo an Bord und hatte das Deck weitgehend für sich.
Trotz der Gefahren, deren es vor allem im Dunkeln viele gab, war Matty Kettelsmit regelrecht beschwingt — außerhalb des Palastes und allein! So schlimm die Zustände inzwischen auch innerhalb der Burg selbst sein mochten, war das natürlich gar nichts gegen den äußeren Befestigungsring, wo sich so viele hungrige, verängstigte Menschen drängten, dass ein nächtlicher Ausflug dorthin lebensgefährlich war, selbst wenn man von den tückischen Ruinen absah, die das Kanonenfeuer des Autarchen hinterließ.
Zwei Tage Freiheit am Stück! Kettelsmit betete, dass Hendon Tolly noch etwas länger abgelenkt sein würde.
Er hatte erwogen, die späteren Nachtstunden abzuwarten, ehe er den Versuch unternahm, sich ins Haus seiner Schwester zu schleichen, aber der innere Befestigungsring war fast so voll mit Flüchtlingen wie der äußere; wenn er es anging, solange die Leute noch wach waren, würde ihm der Lärm der Flüchtlingslager Schutz bieten. Er durchquerte einen leerstehenden Laden, kletterte zu einem Fenster im ersten Stock des Hauses hinaus und zum Nachbarhaus hinüber und ließ sich dann in den Hof einer ebenfalls verlassenen Pferdemetzgerei fallen. Von hier verschaffte er sich Zutritt zu diesem Haus, stieg die Treppe hinauf, aufs Dach hinaus und hinüber aufs Nachbardach, unter dem sich seine Mutter ein Zimmer mit Elan teilte. Er beobachtete geraume Zeit die Straße, konnte aber niemanden entdecken, der so aussah, als überwachte er das Haus.
Zu Kettelsmits Enttäuschung war es seine Mutter, die auf sein diskretes Klopfen am Fensterladen reagierte. Sie hielt ihre Triskele ans Mieder gepresst, bis der Laden halb offen war, dann schoss die Faust mit dem Kettenanhänger so plötzlich durch die Öffnung, dass sie Kettelsmit am Kinn traf, als er gerade zum Reden ansetzte.
»Sei durch die Brüder gebannt, niederträchtiger Dämon?«, rief Anamesiya Kettelsmit und hieb ihm die Triskele aufs Ohr.
»Bei Zosim Salamandros, Weib, was tust du?« Er bemühte sich, leise zu sprechen, aber es kam dennoch als halberstickter Schrei heraus. »Du hast mir die Nase blutig geschlagen! Lass mich rein!«
»Matthias, du?« Seine Mutter trat zurück, und er fiel mehr oder weniger ins Zimmer. »Was machst du da, du Narr? Ich dachte, du wärst ein Dämon?«
Er saß auf dem Fußboden und versuchte sich erst einmal zu fassen. »Ich bin keiner. Können wir uns darauf einigen? Oder ziehst du es vor, mich wieder zu schlagen?«
»Matthias?«, sagte Elan, nicht vom Bett aus, sondern von einem Schemel am Tisch, wo die einzige Lampe im Raum brannte. Sie saß an einer Näharbeit und sah in den schlichten Kleidern seiner Schwester so hübsch aus, dass es einen Moment dauerte, bis ihm bewusst wurde, wie sie ihn eben genannt hatte. Nicht Matt und auch nicht Matty, sondern Matthias. So wie ihn seine Mutter nannte.
»Ja, ich bin's.« Er stand auf, wischte sich den Staub von den Kleidern und ein paar Tropfen Blut von der Oberlippe und ging dann zu Elan, um ihr einen Handkuss zu geben. »Ich wollte ...«
»Hast du mein Geld?«, fragte seine Mutter. »Das neue Tagzehnt hat schon vor drei Tagen begonnen.«
Kettelsmit schaffte es mit Mühe, nicht zu brüllen. Er musste sich in Erinnerung rufen, dass dort draußen womöglich Spitzel standen, vielleicht sogar Bewaffnete, die das Haus beobachteten. »Ich war die ganze Zeit praktisch Hendon Tollys Gefangener, Mutter, er hat mich Tag und Nacht nicht von seiner Seite gelassen.«
»Oh, dann bist du also wirklich auf dem Weg nach oben.« Seine Mutter lächelte entzückt.
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