Das Herz
»Wir haben es gehört, waren uns aber nicht sicher ...«
»Ihr Ärmster«, sagte Elan. »Könnt Ihr es aushalten? Er ist so brutal.«
»Ich möchte nicht darüber sprechen.« Er setzte sich im Schneidersitz neben sie. »Wie geht es Euch, edles Fräulein? Ertragt Ihr diese« — er sah seine Mutter an — »schwierigen Bedingungen?«
Sie lachte. »Bei dem, was um uns herum geschieht? Wusstet Ihr schon, dass das Erilo-Heiligtum nur eine Straße weiter von einer Kanonenkugel in Kleinholz verwandelt wurde? Ich kann mich glücklich schätzen, ein Dach überm Kopf zu haben und Menschen, die mir helfen.« Sie lächelte süßlich. »Eure Mutter war sehr freundlich.«
»Oh, und ich habe Fräulein Elan alles über die Wunder des Glaubens und die Güte der Götter erzählt. Sie ist praktisch entschlossen, sich von der Eitelkeit der Welt abzukehren und ein spiritistisches Leben als Trigonatsschwester zu führen.«
»Sprituelles«, sagte er obenhin. »Ich sehe, ich bin nicht der Einzige, der leidet. Ihr müsst ihr nicht zuhören, Elan. Sie ist es gewohnt, dass ihre Predigten ignoriert werden.«
Diesmal war das Lächeln der jungen Frau echter. »Nein, ich höre es gern. Vielleicht finde ich eines Tages wirklich ein wenig Frieden im Ordensleben ...« Sie sah den ungläubigen Ausdruck auf Kettelsmits Gesicht und missverstand ihn. »Nein, wirklich, ich sage das nicht nur Eurer Mutter zu Gefallen.«
Anamesiya Kettelsmit nickte zufrieden. »Fräulein Elan weiß, dass die Götter Sündhaftigkeit bestrafen und dass man der Strafe nur entgeht, indem man tut, was die Götter wollen ...«
»Aber Ihr habt uns noch gar nicht gesagt, was Euch hierherführt«, schnitt Elan die Auftaktsätze seiner Mutter ab. »Erzählt, Matthias.«
»Oh!« Er richtete sich auf. »Gut, dass Ihr mich daran erinnert — ich habe etwas für Euch.«
Er griff in seine Wamstasche, wo er es unmittelbar am Herzen getragen hatte. »Hier. Es ist ein Gebetbuch mit Bildern aus dem Leben Zoriens.« Er reichte es ihr. »Es hat einst Prinzessin Briony gehört. Ich habe es in der Kapelle gefunden.«
Elan betrachtete es eingehend, schien aber nicht gerade entzückt. »Das ist sehr schön, Matthias. Seht doch die Illustrationen! Meisterhaft!« Sie blätterte langsam, gab ihm das Buch dann zurück. »Aber ich kann es nicht annehmen. Es gehört der Prinzessin, und wenn sie zurückkommt, wird sie dieses hübsche Büchlein wiederhaben wollen.«
Er war überrascht und verwirrt. »Aber ... sie würde es doch sicher jemandem gönnen, der ... so gelitten hat wie Ihr ...«
»Nein, danke. Es ist nett gemeint und ein hübsches Buch, aber ich kann es nicht annehmen.« Sie sah ihn nicht richtig an. »Es gehört jemand anderem.«
»Aber was soll
ich
damit anfangen?«
Sie schüttelte den Kopf »Ich weiß es nicht, Matthias.«
Er war so enttäuscht, dass er kurz erwog, das Buch einfach dazulassen und zu gehen, aber seine Mutter beobachtete ihn mit so unverhohlener Genugtuung, dass er es sich anders überlegte und das Gebetbuch wieder in seine Brusttasche steckte. »Dann werde ich mir etwas einfallen lassen. Vielleicht stifte ich es dem Zorienheiligtum.«
»Habt Ihr sonst noch Neuigkeiten?«, fragte Elan. Er hatte jetzt das deutliche Gefühl, dass seine Anwesenheit eher erduldet als genossen wurde.
»Nicht viel«, sagte er und stand auf »Eigentlich habe ich gerade für Hendon Tolly etwas in der Erivor-Kapelle zu erledigen und sollte mich sputen. Die Situation im Palast ist ... nun ja, ehrlich gesagt, nicht gut. Tolly ist ziemlich seltsam und scheint überhaupt nicht die Absicht zu haben, dem Autarchen irgendwelchen Widerstand zu leisten — er ist kaum dazu zu bringen, mit Berkan Hud oder Avin Brone zu reden ...«
»Unser armer Reichshüter hat vergessen, dass die Götter keinem eine Bürde auferlegen, die er nicht zu tragen vermag«, sagte Kettelsmits Mutter salbungsvoll. »Er wird den Glauben wiedererlangen. Er ist ein braver Mann.«
Nicht einmal die frischbekehrte Elan konnte dem gänzlich zustimmen. »Wir müssen für Konnetabel Hud und Graf Brone beten, Anamesiya. Auch sie werden den Beistand der Götter brauchen.«
Anamesiya! Jetzt nannte sie seine Mutter sogar schon beim Vornamen! Was kam als Nächstes?
Er hätte nie gedacht, dass er einmal Ausreden erfinden würde, um Elan M'Corys Gegenwart zu entfliehen, aber genau das hörte er sich jetzt tun.
Unter den Tausenden von Menschen, die in Südmarksburg zusammengepfercht waren, schien allein Vater Uwin nicht
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