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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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klammen Kälte warten musste, bis einer der Wachsoldaten in dem großen Raum ein Feuer entzündet hatte — selbst jetzt, im Spätfrühling, war die Insel ein windiger, feuchter Ort. Alle Wachen waren wohlbewaffnet, die einen mit Schwertern und Speeren, die anderen mit gespannten Armbrüsten.
    »Er wird bald hier sein.« Tolly ließ sich auf einem hochlehnigen Stuhl nieder. »O ja, ich bin sicher, er hat unsere Landung beobachtet, um sich zu überzeugen, dass wir auch wirklich nur sechs Wachen mitbringen und keinen Mann mehr.«
    Etwas machte in der Decke ein trippelndes Geräusch, und Kettelsmit sah empor.
    »Ratten«, sagte Hendon Tolly. »Das Haus steht so lange leer, dass es hier nur so von ihnen wimmeln muss. Hast du Angst vor Ratten, Dichter?«
    »Angst?« Er mochte sie nicht besonders, war sich aber nicht sicher, was Tolly hören wollte. »Es geht ...«
    »Sie sind das klügste Viehzeug, wie die Leute auf dem Land sagen.« Hendon Tolly grinste. »Ich kannte mal einen Mann, einen Wildhüter auf unserem Jagdsitz in den Bergen von Gronefeld, der hatte eine aufgezogen, fast wie sein eigenes Kind. Sie hat auf seiner Schulter gesessen und auf sein Kommando gesungen.«
    »Gesungen?« Laute Stimmen vom Anleger her drangen durch die Fenster herein.
    »Nun, so gut es eine Ratte eben kann«, räumte Tolly ein. »Sie fiepte mit, wenn er sang. Und sie konnte ihm seinen Geldbeutel bringen, wenn er ihn fallen ließ, und Münzen im Stroh unterm Tisch finden. Bis dann jemand genug von diesem Trick hatte und auf das Vieh draufgetreten ist.« Er neigte den Kopf. »Ah, hörst du? Er kommt.« Der Reichshüter stand auf, was als solches schon erstaunlich war, doch als Kettelsmit ihn von einem Fuß auf den anderen treten sah, wurde ihm etwas noch viel Erstaunlicheres klar: Hendon Tolly war nervös, vielleicht sogar ängstlich.
    Einer der Gronefelder Wachsoldaten öffnete die Tür und ließ zwei dunkle Männer mit harten Gesichtern ein. Sie trugen lange, ziselierte Gewehre und Helme, geformt wie der grinsende Kopf irgendeiner gefleckten Katze, eines Löwen oder Leoparden. Nach einer kurzen, argwöhnischen Inspektion des Raums traten sie jeweils an eine Seite der Tür und nahmen dort eine starre Habachtstellung ein. Noch ehe Kettelsmit irgendetwas anderes tun konnte, als diese Neuankömmlinge mit ihren harten, braunen Gesichtern anzugaffen, kam eine dritte Person herein, ein stattlicher, älterer Mann mit einem langen, sorgsam gepflegten Bart und einer Aura fast schon lachhafter Feierlichkeit.
    Das muss der xixische Gesandte sein ... dachte Kettelsmit.
    »Aus dem Weg, Priester«, sagte eine andere Stimme. Der wohlbeleibte Mann huschte beiseite, sodass sich eine weitere Gestalt unter dem Türsturz durchducken und den Raum betreten konnte.
    Der Mann war sehr groß, das war das Erste, was Matty Kettelsmit sah — über einen Kopf größer als Hendon Tolly, größer auch als der Bärtige und sämtliche Wachen, die wahrhaftig nicht klein zu nennen waren. Der Neuankömmling war eigentümlich gekleidet: Er trug ein langes weißes Leinengewand und eine Kopfbedeckung, wie Kettelsmit noch keine gesehen hatte, ein hohes, zylindrisches Ding, dicht mit Edelsteinen besetzt und mit Golddraht umwunden, das ihn jeden im Raum turmhoch überragen ließ. Erst als er zu dieser Erscheinung emporstarrte, begriff Kettelsmit endlich, dass es nicht nur ein seltsamer, teurer Hut war, den der Mann da trug — es war eine Krone. Der Autarch persönlich war eingetroffen.
    Just in diesem Schockmoment des Erkennens stießen die xixischen Wachen ihre Gewehrkolben so fest auf den Boden, dass Matty Kettelsmit erschrocken zusammenfuhr und Tollys Wachen an ihre Waffen griffen.
    »Der Goldene, Herr des großen Zelts und des Falkenthrons«, verkündete eine der xixischen Wachen mit lauter Stimme, »Herr aller Orte und Geschehnisse, tausendfach gepriesen sei sein Name — verneigt euch vor dem ruhmreichen Sulepis Bishakh am-Xis III., dem Herrscher über ganz Xand und Auserwählten des Nushash!«
    Sobald ihr Herr angekündigt war, geleiteten ihn die Wachen in den Leopardenkostümen zu einem der beiden größten Stühle im Raum. Hendon Tolly setzte sich ihm gegenüber, das Gesicht eine sorgsam kontrollierte Maske. Der Autarch bedeutete seinem dicken bärtigen Priester mit einer Handbewegung, hinter ihm Aufstellung zu nehmen. Tolly ließ sich nicht dazu herab, Matthias Kettelsmit vorzustellen, was dem Dichter ganz und gar nichts ausmachte: Schon ein kurzer Blick der seltsam

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