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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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unvorstellbar sein. Ist das klar?«
    Kettelsmit begriff nicht, warum Hendon Tolly nichts sagte — merkte er denn nicht, dass dieser Mann es ernst meinte, dass der Autarch sie alle, ohne mit der Wimper zu zucken, vernichten würde, wenn es ihm passte? Aber der Reichshüter von Südmark hatte den Gesichtsausdruck eines Mannes, der sich plötzlich sehr krank fühlt.
    »Aber ich ... ich ...« Tolly klappte den Mund zu, doch es war schon zu spät. Der Autarch starrte ihn an.
    »Ihr habt ihn doch, oder?«, fragte der Autarch. »Ihr habt mir gesagt, dass Ihr ihn habt.«
    »Natürlich ...!« Tolly hatte seinen Fehler bemerkt. »Natürlich, aber ich dachte ...«
    »Beschreibt ihn mir.« Der Autarch von Xis beugte sich vor, und seine gelben Katzenaugen fixierten Tolly. »Erzählt mir, wie der Stein aussieht, Hund von einem Nordländer!«
    »Wie ...« Tolly schaffte es noch nicht einmal, sich eine Lüge auszudenken. Er schob seinen Stuhl zurück. Seine Armbrustschützen richteten ihre Waffen auf die Xixier. Die xixischen Wachen brachten ihre Gewehre in Anschlag. Kettelsmit erwog sorgsam, ob er sich auf den Boden werfen sollte, befürchtete aber, dass das die Wachen erschrecken könnte und dann alle sterben würden, seine Person eingeschlossen. Eine ganze Weile maßen sich Tolly und der Autarch nebst ihren jeweiligen Wachen über eine Kluft hinweg, die gerade mal drei Schritte breit war.
    Der Xixier brach das Schweigen; sein Gesicht war jetzt hart wie Kupfer und glühend von Zorn. »Ihr habt geschworen, dass Ihr den Gottstein habt. Ihr habt mich belogen — mich! Ich habe mich herabgelassen, hierher zu kommen und mit Euch zu reden ...!« Seine gelben Augen schienen zu glimmen und Funken zu sprühen, als ob er innerlich brannte und jeden Moment ganz in Flammen aufgehen könnte. Kettelsmit konnte ihn kaum anschauen. »Ihr könnt von Glück sagen, dass Ihr einen weiteren Tag in Freiheit zubringen dürft, statt Futter für meine Folterknechte zu sein — aber das wird sich ändern!« Der Autarch erhob sich. Tollys Wachen starrten ihn an, die Gesichter ein Widerstreit von Entschlossenheit und nackter Furcht, doch der Autarch wartete nur, dass ihm seine Wachen die Tür öffneten, und folgte ihnen dann nach draußen, so überzeugt von seiner Sicherheit, dass er sich nicht mal mehr umsah.
    Nachdem die Südländer gegangen waren, ließ sich der Reichshüter von Südmark in seinem Stuhl zurücksinken.
    »Wir sind alle tot«, sagte Hendon Tolly.
    Als sie die steinernen Stufen zum Anleger hinabtrotteten, blickte Kettelsmit sich um und sah eine Bewegung im nächstgelegenen Fenster der Hütte. Er befand, dass es ein Trugbild aus Licht und Schatten gewesen sein musste. Hendon Tolly und die Wachen gingen vor ihm her, so langsam und niedergeschlagen wie ein Trauerzug, und der Autarch und seine Männer hatten den M'Helansfels bereits verlassen — Kettelsmit sah in der Ferne ihre Boote auf die wartende xixische Flotte zusteuern. Wer sonst konnte in der Hütte sein?
    Erst als sie den halben Rückweg zurückgelegt hatten und das Seetor der Burg in Sicht war, brachte Kettelsmit den Mut auf, etwas zu sagen.
    »Herr, ich habe es nicht verstanden. Was ist da geschehen? Ich kann das, was ich gerade gesehen und gehört habe, nicht deuten.«
    »Wir haben ... einen Rückschlag erlitten«, gab Tolly schließlich zu. Er sah auf den Kasten hinab, den ihm der Autarch überreicht hatte und der jetzt auf dem Deck des kleinen Bootes stand. Dann bückte er sich abrupt, hob den Kasten hoch und schleuderte ihn übers dunkelgrüne Wasser der Bucht. Er landete mit einem Platschen. »Aber es wird weitergehen«, sagte er und hob triumphierend die Stimme, als hätte er nicht gerade eben den abgetrennten Kopf seines Bruders über Bord geworfen. »Weil Sulepis diesen Gottstein auch nicht besitzt!«
    Kettelsmit konnte Hendon Tolly nur in fassungslosem Entsetzen anstarren. Plötzlich erschienen ihm seine Verse über Adlige und Götter unglaublich naiv. Wenn sich die Reichen und Privilegierten so benahmen, wie viel schlimmer mussten dann erst die Götter sein? Falls er je in die glückliche Lage kommen sollte, wieder Verse schreiben zu können, beschloss Matty Kettelsmit, würde er die Wahrheit sagen. Er würde Gedichte verfassen, die sowohl die Schönheit als auch die wahren Schrecken des Lebens schildern würden. Er würde die Wahrheit schreiben und die Welt damit schockieren?
    »Aber was könnte es sein?« Hendon Tolly sprach immer noch mit sich selbst; von einem

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