Das Hexen-Amulett (German Edition)
ausgewählt hatte. Lady Margaret hatte ein besonderes Faible für Poesie. Eines Abends geriet Campion über einem bestimmten Gedicht ins Stocken. Sie hörte auf zu lesen und errötete. Lady Margaret sah sie fragend an.
«Was hast du, Kind?»
«Es ist so unanständig.»
«Gütiger Himmel! Jack Donne war ein frommer Gottesmann, Dechant der Kathedrale von St. Paul. Wir waren in unserer Jugend gut mit ihm bekannt.» Lady Margaret verzichtete darauf zu erwähnen, dass John Donne als junger Mann und vor seiner Priesterweihe ein sehr ausschweifendes Leben geführt hatte.
«Ist er tot?»
«Leider, ja. Lies weiter.»
Und sosehr es sie auch in Verlegenheit brachte, las Campion:
«Gewähre meiner Hand, die streunt, Begehr
zu fahren auf und ab, kreuz und quer.
Oh, mein Amerika! Neuentdecktes Land,
ach, wär’s doch nur mit einem Mann bemannt …»
Sie errötete wieder, als sie das abschließende Couplet rezitierte:
«Will dich lehren, ich bin nackt zuerst, warum dann
bedarfst du der Kleider mehr als ein Mann?»
Lady Margaret lächelte. «Sehr hübsch, meine Liebe. Du liest recht ordentlich.» Sie seufzte. «Der gute Jack. Er zählte zu den Männern, die ihre Stiefel anbehalten.»
«Wie bitte, Lady Margaret?»
«Nichts für ungut, Liebes. Manche Dinge sind für junge Ohren nicht bestimmt.»
So jung war Campion, wie Lady Margaret wusste, nun auch wieder nicht. Sie zählte inzwischen einundzwanzig Jahre, hatte also ein Alter erreicht, in dem die meisten Mädchen verheiratet waren. Trotzdem war sie noch unschuldig. Aber sie lernte. Lady Margaret öffnete ihr die Augen, regte ihre Gedanken an und hatte ihren Gefallen daran.
Campion musste Lady Margaret bei den Kriegsvorbereitungen helfen, die nach Fertigstellung ihrer «Befestigungsanlage» mit der Ausbildung an der Muskete und Schießübungen quer über den Graben fortgesetzt wurden. Eines Novembermorgens, als Campion gerade das Ziel aufgestellt hatte und über den wackligen Brettersteg auf die andere Seite ging, winkte Lady Margaret ihr mit einem Blatt Papier zu. «Ein Brief von Toby. Keine Sorge, für dich ist auch einer gekommen.» Campion sah, wie dem Boten im Schlosshof ein Krug Bier gereicht wurde. Boten mussten bei Laune gehalten werden, um sicherzustellen, dass Briefe möglichst schnell ihr Ziel erreichten und nicht wochenlang unterwegs waren. Lady Margaret blickte an ihrer römischen Nase entlang auf den Briefbogen. «Ha! Er hat einen Mann getötet. Gut!»
«Getötet?»
«Er schreibt, er war in einem chevauchée unterwegs, was immer das sein mag. Ah, jetzt verstehe ich. In einem Reiterzug. Warum sagt er das nicht gleich? In einem Dorf sind sie auf mehrere Lobster getroffen, und er hat einen von ihnen mit der Pistole niedergeschossen. Schön für ihn!» Campion wusste, dass mit einem «Lobster» ein gepanzerter Rundkopf gemeint war.
«Geht’s ihm gut?», fragte sie besorgt.
«Nein, mein Kind, er ist tot. Toby hat ihn getötet.»
«Ich meine doch Toby.»
«Natürlich geht’s ihm gut. Sonst hätte er wohl kaum schreiben können. Manchmal, Campion, fürchte ich, du könntest am Ende so dumm sein wie meine eigenen Töchter … Ah, Herr im Himmel!»
«Was ist?»
«Geduld, mein Kind. Ich bin noch nicht fertig.» Als sie den Brief gelesen hatte, reichte sie Campion das Blatt mitsamt dem Umschlag. Worüber sich Lady Margaret so erschreckt hatte, war in der Tat beunruhigend. Bei dem Gefecht in der Ortschaft, in der Toby den Lobster erschossen hatte, war ein Kurier der Rundköpfe gefangen genommen worden, der in seiner Ledertasche einen an «Unseren treuen Diener Samuel Scammell» adressierten Befehl mit sich getragen hatte. In diesem Befehl wurde Scammell damit beauftragt, Truppen auszuheben, vermutlich mit Geldern aus dem Bund. Toby berichtete außerdem, dass das Parlament die Royalisten aus Dorset zu vertreiben gedenke, um die Ernte des nächsten Jahres für die eigenen Streitkräfte zu sichern. «Sie werden uns sehr nahe kommen», sagte Campion.
«Dann freue ich mich schon jetzt auf deinen Gatten, Liebes.» Lady Margaret hatte ihren spöttischen Spaß daran, Scammell als Campions Gatten zu bezeichnen und dieses Wort mit Abscheu auszusprechen. Sie hob die Muskete an ihre Schulter. «Soll er nur kommen!» Das Ziel, ein mannsgroßes Stück Sackleinen an einer Stange, wehte im Wind. Lady Margaret blinzelte über den Lauf, der nur zur Hälfte mit Pulver geladen war, und drückte ab. Es krachte, und aus der Mündung puffte schwarzer Rauch. Das Geschoss
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