Das Hexenbuch von Salem
Mercy stirbt. Patty zieht weg. Josiah stirbt – irgendein Unfall an den Docks. Und dann, im Jahre I798, bricht das Tagebuch urplötzlich ab. Connie ließ den kleinen Gegenstand von einem Finger zu nächsten wandern und blätterte mit zusammengekniffenen Augen in dem Notizbuch zurück.
»›3. Dezember I760‹«, las sie laut vor. »›Sehr kald. Patty unwohl. Mutter sucht nach ihrem Allmannach. Sehr böse, als sie erfährt, dass ich es der Gemein.bü. gespendet habe. Macht ihr einen Preiumschlag. Patty geht es pesser.‹ Hmm«, machte Connie nachdenklich, als wäre noch jemand in dem leeren Haus. »Ist ›Gemein.bü.‹ vielleicht eine Abkürzung für Gemeindebücherei? Was glaubst du, Arlo?«
Es kam keine Antwort. Sie blickte hinab und sah, dass der Hund verschwunden war. »Undankbares Vieh«, sagte sie. In ihr Notizbuch schrieb sie die Worte GEMEINDEBÜCHEREI MARBLEHEAD ODER SALEM? in Großbuchstaben, und markierte sie mit mehreren kleinen Sternchen. Sie lehnte sich in dem Stuhl zurück und grübelte.
»Ein Almanach«, und ließ den Gedanken auf sich wirken, prüfte, ob er plausibel war. Und das war er. Langsam stahl
sich ein Lächeln in ihre Mundwinkel und breitete sich von dort auf ihrem ganzen Gesicht aus, bis es ihre Augen erreicht hatte, die zu glänzen begannen. Sie schaute auf ihre Hand und bemerkte erst jetzt bewusst den kleinen Gegenstand, mit dem sie die ganze Zeit herumgespielt hatte.
Es war ein winziger, verrosteter Nagel, vierkantig und unregelmäßig beschlagen. Er sah irgendwie unscheinbar und müde aus, als hätte er lange Zeit seine Arbeit verrichtet. Es war der Nagel, der aus dem modrigen Türstock gesprungen war, als sie am ersten Tag die Eingangstür des Hauses ihrer Großmutter aufgestemmt hatte. Den Nagel in der geschlossenen Faust ging sie hinaus in den Garten.
Unter den Weinranken wurde es langsam Abend, und Connie stellte sich auf die Zehenspitzen, ihre nackten Zehen krallten sich in die moosbewachsene Treppe aus Steinfliesen. Der Stein unter dem nassen Moos fühlte sich kalt und hart an. Sie schob die Ranken der Glyzinie beiseite, deren Blüten durch die Hitze schlapp und papieren geworden waren, und stieß auf das Hufeisen, das in schiefem Winkel an der Mauer hing. Connie schaute auf den großen, eingebrannten Kreis auf ihrer Eingangstür hinab.
Dominus adjutor meus. Alpha. Omega. AGLA. Sie schloss die Faust fest um den winzigen Nagel, presste die Kiefer aufeinander.
»Warum nicht«, sagte Connie laut. Sie schob das Hufeisen wieder an seinen Platz zurück, der wie ein rostiger Schatten auf dem Verputz zu erkennen war, und drückte mit dem Daumenballen den Nagel in das nachgiebige Holz. Dann trat sie zurück, verschränkte die Arme und schaute zum Haus empor, das ihren Blick mit einem Ausdruck zu erwidern schien, der irgendwie an Zustimmung erinnerte.
»Sei gesegnet«, sagte sie ironisch zu Arlo, der wieder zu ihren Füßen aufgetaucht war.
VIERZEHN
Marblehead, Massachusetts
Mitte Juli 1991
O bwohl sie sich die allergrößte Mühe gab, sich in Grannas Haus wohlzufühlen, hatte Connie oft den Eindruck, in der Küche wie eingesperrt zu sein, fast, als würde sie sich hier verstecken. Möglich, dass ihr eng umrissener Wirkungskreis mit der alten Eisbox und ihrem verführerischen Deckel zusammenhing, der einzigen Stelle im Haus, an der in der mittsommerlichen Hitze kühle Luft zu haben war. Notizen machte sie sich nur an Grannas Sekretär im Wohnzimmer, spät in der Nacht zog sie sich zum Schlafen in das Himmelbett im ersten Stock zurück, und ansonsten bewegte sie sich so schnell wie möglich durch das Haus. In der Küche jedoch hielt sie sich gerne auf, um an der Spüle Wasser laufen zu lassen oder auf der Arbeitsfläche Gemüse zu putzen und zu zerkleinern. Das lag daran, dass sie hier das Gefühl hatte, Herrin der Lage zu sein; dieser kleine Raum schien ihr der einzige in dem wahrscheinlich unverkäuflichen Haus ihrer Großmutter zu sein, der überschaubar und dessen Renovierung zu bewältigen war. Außerdem hatten seine wenn auch veralteten Geräte wenigstens einen Bezug zu der Welt des zwanzigsten Jahrhunderts draußen, der Welt, der Connie immerhin noch angehörte. Auch an diesem Morgen stand sie wieder einmal über die geöffnete Box gebeugt, mit einem Unterarm den Deckel aufhaltend, das Kinn in den wabernden Eisnebel gereckt,
der der Box entströmte, und ließ die kühle Luft bis unter ihren feuchten Haaransatz und in die Furchen hinter ihren Ohren strömen.
Heute
Weitere Kostenlose Bücher