Das Hexenbuch von Salem
fühlte sie sich ruhig und konzentriert. Ihre Pläne für den heutigen Tag standen fest, und sie liebte nichts so sehr wie einen geregelten Tagesablauf. Ihr angegriffenes Gefühl der Sicherheit wurde gestärkt, wenn sie in der kleinen Küche mit der billigen, dünnen Fliegengittertür und den Regalen voller alter Einweckgläser stand. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Morgen ein paar der Gläser zu öffnen, den Inhalt, der meistens schwarz und trocken war, auf dem Komposthaufen am hintersten Ende des Gartens auszuleeren und das Glas sauberzuschrubben. Die leeren Gläser stellte sie, wenn sie ausgespült und abgetrocknet waren, in Reihen auf die Hintertreppe. Sie mochte es, hinter dem Fliegengitter zu stehen und die Reihen von Gläsern zu betrachten, denn schließlich stellten der stetig wachsende Komposthaufen und die immer leerer werdenden Regale ihr ganz eigenes System der Zeitrechnung dar. Mittlerweile war das unterste Regal bereits ganz frei geräumt, und Connie hatte selbst den letzten Staub entfernt, den Lappen gründlich in der Spüle ausgewaschen und empfand dabei genau das Gefühl der Erleichterung, das jeden durchströmt, der eine kleine Aufgabe bewältigt hat.
Mit leisem Bedauern klappte Connie die Eisbox zu und wandte sich wieder den Regalen zu, um die Gläser für ihre heutige Reinigungsaktion auszusuchen. Drei mittelgroße standen auf Augenhöhe, die Etiketten aufgeworfen und brüchig, und sie nahm eines nach dem anderen herunter, legte sie in ihre Armbeuge und drückte sie gegen ihren Bauch. Als sie nach dem letzten Einweckglas griff, stieß sie mit den Fingerknöcheln an etwas, das nicht zu sehen war, streckte die Hand danach aus und zog es nach vorne zur Kante des Regalbretts.
Es war eine undefinierbare metallene Büchse, klein, grau, mit einem Bügel wie bei einer Lunchbox, der jedoch nicht geschlossen war. Connie ließ sie stehen, während sie die drei Einweckgläser zum Komposthaufen trug. Wenige Momente später kam sie zurück und wischte sich die nassen Hände an ihrer Jeans ab.
Nun nahm sie die kleine Büchse in die Hand und klappte den Verschlussbügel auf. Darin steckte eine Reihe von Karteikarten. Auf der ersten stand Limettenkuchen , in der etwas verkrampften Handschrift, die Connie vage als die ihrer Großmutter in Erinnerung hatte. Sie lachte leise vor sich hin. Schmalz, las sie, und streckte angewidert die Zunge heraus, obwohl keiner in der Küche war, der das gesehen hätte. Sie legte die Büchse beiseite und blätterte die Karteikarten durch. Es handelte sich um die mit Füllfederhalter geschriebenen Kochrezepte ihrer Großmutter, eine geradezu trotzige Sammlung typischer Rezepte aus den Fünfzigerjahren: Tomatenaspik, Schweinelendchen, Bohneneintopf mit Würstchen. Es bereitete Connie ein diebisches Vergnügen, als sie sich vorstellte, die Karten für die längst vegetarisch lebende Grace aufzubewahren und ihr schwarz auf weiß mit der Post eine Erinnerung an ihre Kindheit zukommen zu lassen. Mit einem Blick auf die Uhr ließ Connie die Karten in ihre hintere Hosentasche gleiten, griff nach ihrer Schultertasche, ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen und machte sich auf den Weg ins Athenäum von Salem.
Eine nachmittägliche telefonische Recherche bei den diversen, rivalisierenden historischen Gesellschaften nördlich von Boston hatte ergeben, dass es tatsächlich einmal so etwas wie eine Gemeindebücherei in Salem gegeben hatte. Gegründet gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts als Ableger eines Herrenclubs, hatte sie sich einige Jahre durch exorbitant
hohe Mitgliedsbeiträge sowie die Schenkung von Büchern über Wasser gehalten, die wohlhabende Kaufleute von Salem auf ihren Überseereisen erworben hatten. Im Jahre I8I0 war die Gemeindebücherei allerdings mit einer privaten Bibliothek für Wissenschaft und Technik zusammengelegt worden, der sogenannten Philosophischen Bibliothek, woraus das Athenäum von Salem entstanden war. Zur Überraschung und genüsslichen Freude von Connie stellte sich heraus, dass dieses Athenäum im neunzehnten Jahrhundert floriert hatte. Während Salems Gunst im Schiffsbau am Schwinden war und seine Bedeutung als Handelshafen gegenüber den Häfen in Boston, Baltimore und den beiden Carolinas zunächst nur ins Hintertreffen geriet und dann vollkommen überboten wurde, hatte sich das Athenäum, ohne seiner stetig abnehmenden Bedeutung für die amerikanische Wissenschaft gewahr zu werden, lange über Wasser gehalten. Während
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