Das Hexenbuch von Salem
die verschrammte Oberfläche des Schreibtischs und wartete darauf,
dass der bebrillte junge Mann dahinter Notiz von ihr nahm. Er saß über ein offenes Arbeitsbuch gebeugt, in der Hand einen Bleistift, und hielt jetzt einen Zeigefinger hoch, um ihr zu bedeuten, sie möge sich einen Moment gedulden. Sie stieß ungehalten den Atem aus, und er knallte den Bleistift auf den Tisch, während er aufstand. Das Arbeitsbuch war voller chinesischer Schriftzeichen.
»Entschuldigung«, sagte er. »War beim Übersetzen. Kann ich dir helfen?«, fragte er mit brüsker, aber durchaus hilfsbereiter Stimme.
»Ja. Ich habe gerade das Computersuchsystem benutzt, um nach einem seltenen Buch zu schauen, aber die Katalogeinträge scheinen nur bis I972 zu gehen und nicht weiter zurück.« Sie schaute ihn fragend an und stützte die Ellbogen auf die Tischplatte.
Er rollte die Augen mit fast unverhohlener Verzweiflung. »Na ja, das stimmt. Die Datenbank geht nur bis I972 zurück, weil das der Bestand ist, der gescannt wurde. Die Bibliothek begann mit neuerem Material und arbeitet sich jetzt langsam rückwärts. Wenn du den kompletten Bestand von Büchern einsehen willst, die früher veröffentlicht wurden, musst du den Kartenkatalog konsultieren.« Er zeigte mit der Radiergummispitze seines Bleistifts auf die Wand mit den Karteikästen.
Connie seufzte. Noch ein Tag im Kartenkatalog.
»In welchem Jahr wurde dieses Buch denn veröffentlicht?«, fragte er und wandte sich seinem Computer zu.
»Ich bin mir nicht ganz sicher«, antwortete sie, »aber bestimmt vor I680.« Sie machte den Hals ein wenig lang, um zu sehen, was er eintippte.
Der Bibliothekar pfiff leise durch die Zähne, seine Finger hackten klappernd auf den Tasten herum. Schließlich drückte er mit einem abschließenden Klacken auf die Return-Taste.
»Ja, diese Signaturen sind alle in der Bibliothek für Spezialsammlungen untergebracht«, sagte er. »Dafür muss ich dir eine besondere Zugangsberechtigung geben. Studentenausweis?«
Sie reichte ihm ihre Karte und sah dabei zu, wie er ihren Namen in ein kleines grünes Kärtchen eintrug. Wenn man aus dem Schriftbild des Kärtchens schließen wollte, war es in dieser Form wohl schon mindestens seit den Zwanzigerjahren im Gebrauch.
Während er eine komplexe Reihe von Signaturen aufschrieb, sagte der junge Mann: »Eigentlich lassen die dort nur Lehrpersonal rein, aber da du schon an deiner Promotion arbeitest, dürfte das kein Problem sein.« Er schob ihr das Zugangskärtchen über den Tisch und zeigte mit seiner Radiergummispitze auf eine Zeile, wo sie unterschreiben sollte. »Zeig das hier vor, wenn du zum Eingang kommst, zusammen mit den Signaturen, die du nachschauen möchtest. Vielleicht wollen sie, dass du dich in ein Gästebuch einträgst, in den Sommerferien ist sowieso kaum jemand da.«
»Prima«, sagte Connie, aus deren Stimme kein Funke Begeisterung zu hören war. »Danke.« Der junge Mann salutierte neckisch mit seinem Bleistift und wandte sich wieder seinen Übersetzungen zu, während Connie sich zum Kartenkatalog schleppte. Dort angekommen, blieb sie einen Moment lang stehen und rekapitulierte, welche Detailinformationen sie bereits über das Buch eingeholt hatte.
Junius Lawrence hatte Deliverances Buch der Schatten zusammen mit der übrigen Sammlung des Salemer Athenäums an Harvard gestiftet, als er im Jahre I925 starb, so viel wusste sie. Connie stand mit verschränkten Armen vor der Wand mit den vielen kleinen Holzschubladen. Rätsel Nummer eins: Wie würde die Autorin aufgelistet sein? Es war wohl unwahrscheinlich, dass Deliverance als Autorin
genannt würde, besonders bei der geringen Chance, dass das Buch älter war als I650. Wahrscheinlich hatten mehrere Menschen es verfasst, vielleicht sogar dutzende, was darauf ankam, wie lange das Buch im Gebrauch gewesen war. Selbst die Urheberschaft von bekannten okkulten Texten wurde oft verschleiert durch mehrere Schichten der Übersetzung und der Mythenbildung; die wenigen noch vorhandenen europäischen Exemplare wurden verschiedentlich biblischen Figuren oder Propheten zugeordnet, viele davon waren wahrscheinlich Apokryphen.
Rätsel Nummer zwei: der Titel des Buches. Bis jetzt war es, zu verschiedenen Zeitpunkten und aus unterschiedlichen Standpunkten des Betrachters, als Rezeptbuch, als Buch mit medizinischen Rezepturen oder – so Manning Chiltons Ausdruck – als Buch der Schatten oder Grimoire bezeichnet worden. Dadurch schienen sich auch die Parameter des
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