Das Hexenbuch von Salem
nicht geringer Beklemmung in seine schattigen Tiefen.
»Lächerlich«, sagte sie laut vor sich hin und versuchte das deutliche Gefühl abzuschütteln, dass sie nicht allein mit den
Büchern war. Sie bediente die Zeitschaltuhr am Ende der Regale, und der Gang wurde mit elektrischem Licht und einem lauten Ticken erfüllt, mit dem die Zeitschaltuhr fünfzehn Minuten herunterzählte. Sie eilte den Gang entlang, ließ die Fingerspitzen über die Buchrücken wandern, an denen sie vorbeikam, und las flüsternd die Signaturen vor. Dann stand die erste Möglichkeit von ihrer Liste vor ihr, und sie zog das Buch behutsam aus dem Regal. Es war ein Text über Heilkräuter, etwa verfasst um I660, und einem geleimten Frontispiz auf der Innenseite des Buchdeckels war in dünner, wässriger Handschrift zu entnehmen, dass es der Bibliothek im Jahre I705 von einem gewissen Richard Saltonstall gespendet worden war. Wenn das Lehrbuch bereits seit I705 im Besitz der Bibliothek von Harvard war, dann konnte es kein Teil der Sammlung des Athenäums sein. Connie seufzte und stellte das Buch wieder zurück. Sie strich die Signatur auf ihrer Liste durch und setzte ihren Weg in die Tiefen des Magazins fort, wobei sie sich den feinen roten Lederstaub an ihrer Shorts abwischte.
Der nächste Kandidat stand drei Gänge weiter, und das Ticken hinter ihr trat hinter die erstickende Präsenz so vieler Regale voller alter Bücher zurück, wurde schließlich zu einem fernen Tack-tack-tack , direkt unter ihrer Wahrnehmungsschwelle. Am nächsten Gang drehte sie wieder an der Zeitschaltuhr, und diesmal stand ihre Beute auf dem untersten Regal. Connie ließ ihre Schultertasche fallen, ging in die Knie und zog das Buch auf ihren Schoß. Es war mit einer dicken Schmutzschicht bedeckt, und sie musste rasch in ihre Achselhöhle niesen. Durch Jahrzehnte des Wurmbefalls war der Buchdeckel zu einer Art Gitterwerk zerfressen, und ihr kam der Gedanke, dass sie wohl besonders vorsichtig sein musste, damit ihr das Buch nicht unter den Händen zerfiel. Unter Zuhilfenahme eines Fingernagels schlug sie das Buch
ganz behutsam auf und blätterte die unbeschriebenen ersten Seiten durch. In genau dem Moment, als sie das tat, merkte sie auf, weil sie glaubte, ein Rascheln gehört zu haben.
Connie lauschte angestrengt, und der Atem stockte ihr. Unter der Zeitschaltuhr ihres Ganges hörte sie ein leises Ticken, gefolgt von einem einzigen lauten Klick! Sie stieß den Atem aus. Das war nur die Zeitschaltuhr im ersten Gang, die sich ausschaltete. Es war schier unmöglich, dass noch jemand in dieses Archiv kam, erst recht mitten im Sommer. Die Nase tief ins Buch gesteckt, schaute sie sich den Rest der Vorsatzseiten des Buches an und hatte plötzlich eine Radierung vor sich, die einen toten Körper zeigte, vorne aufgeschlitzt. Verschiedene Organe waren herausgenommen und lateinisch beschriftet. Das muss das medizinische Lehrbuch aus Großbritannien sein, dachte sie enttäuscht. Sie fuhr mit den Fingerspitzen über die erhabene Oberfläche der Radierung, leicht entsetzt über das geschundene Gesicht des Toten in der Abbildung, die Lippen zu einer stummen Grimasse verzogen. In den Achtzigerjahren des siebzehnten Jahrhunderts, als das Buch geschrieben wurde, war die Sezierung von Menschen wohl kaum bereits eine gängige Praxis gewesen. Sie erschauderte, blätterte weiter in dem Buch. Es war auf Latein geschrieben, und ohne Liz würde sie nichts von dem, was sie da las, wirklich verstehen, aber jedenfalls schien es sich nicht um ein Buch über Volkszauber zu handeln. Außerdem war nicht zu erkennen, dass es mehr als einen Verfasser hatte; der Text war gedruckt und schien nach Gelehrtenart aufgebaut zu sein.
Als dieser Gedanke ihr durch den Kopf ging, hörte sie wieder ein Klicken, lauter, und in genau demselben Moment erkannte sie, was es bedeutete, denn der Gang war in vollkommene Dunkelheit getaucht.
»Verdammt«, murmelte sie. Offenbar hatte sich die Zeituhr
ausgeschaltet. Sie klappte das Buch zu, suchte in der Finsternis nach der Lücke im Regal, wo das Buch wieder hinmusste, und rappelte sich hoch. Dann tastete sie sich so lange an den Regalen entlang, bis ihre Hand ins Leere griff und sie wusste, dass sie sich wieder auf dem Mittelgang befand. Ihre nächste Möglichkeit, der Almanach von unbekannter Hand, stand nur einen Gang weiter, und Connie erfühlte sich ihren Weg durch die Dunkelheit, bis ihre Finger die Zeituhr für den nächsten Gang ertasteten. Sie drehte an dem
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