Das Hexenbuch von Salem
zu wollen. »Ich gab ihr eine milde Tinktur für die Nerven zu trinken und betete für sie, weil ich des Glaubens
war, ein warmer Trunk und ein paar liebevolle Worte könnten ihr wieder auf die Beine helfen.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, ihre schmale Brust hob und senkte sich schwer. »Selten hatte ich mich so getäuscht. Dabei war es Saturnismus. Verursacht durch zu viel Blei, das sie vielleicht durch billige Töpfe über die Nahrung zu sich genommen hatte. Ihre Anfälle verschlimmerten sich, während ich bei ihr war, und obwohl ich noch mit einigen machtvollen Sprüchen aufwarten konnte, die gegen zu viel Metall im Körper und Vergiftungen helfen, war es doch zu spät. Und das arme Kind verstarb.«
»Saturnismus«, hauchte Mercy, und ihre Augen weiteten sich, als sie begriff.
»Ja, denn der Saturn ist der Planet des Bleis, so wie der Merkur der Planet des Quecksilbers ist. Ich sehe, du hast nichts verlernt, mein kluges Mädchen.« Deliverance lächelte ihre Tochter an.
»Und sahst du, mit welchen Töpfen es geschehen war?«, erkundigte sich Mercy.
»Ein paar – Steingut mit abgesprungener Bleiglasur, obwohl man sich hier nicht ganz sicher sein konnte. Dafür spricht auch Petfords eigene Verstörung. Was einem Kind einen schrecklichen und qualvollen Tod beschert, kann einen ausgewachsenen Mann immer noch um den Verstand bringen. Und vielleicht war das Blei auch für Sarah Petfords Tod verantwortlich gewesen, die wenige Monate vor der Erkrankung des Kindes gestorben war.« Traurigkeit legte sich über Deliverances Gesicht wie ein schwerer Vorhang. »Martha war folglich wirklich in gewisser Weise verhext, aber es war nichts mehr zu machen. Sollte ich den kummervollen Vater denn mit der Wahrheit erst recht ins Unglück stürzen? Sollte ich den Verstörten auch noch zu Grunde richten, wo mir doch sowieso niemand Glauben geschenkt hätte?«
»Aber dann warst du unschuldig, Mama. Du versuchtest, Martha zu behandeln, nicht ihr zu schaden«, beharrte Martha. »Das müssen wir Gouverneur Stoughton sagen. Er ist ein gebildeter Mann. Er muss doch Vernunft annehmen, wenn man mit ihm redet.«
»Niemand in diesem Anhörungsgericht wird bereit sein, Vernunft anzunehmen, fürchte ich«, sagte Deliverance. »Sie alle haben schreckliche Angst um ihr eigenes Ansehen. Solange diese entfesselten Mädchen von Hexerei krakeelen, ist es für die Richter nicht angebracht, über den eigenen Tellerrand zu blicken. Und solange die Mädchen Geschmack daran finden, mit ihren Launen die ganze Stadt nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen, werden die Prozesse weitergehen.«
Wieder schloss Deliverance die Augen und legte Mercy eine Hand aufs Knie. »Möge Gott der Herr in seiner unendlichen Güte ihnen vergeben.«
»Aber du musst mit mir kommen, Mama«, schrie Mercy, und ihre Stimme wurde schrill. »Sonst wäre es eine schlimme Ungerechtigkeit.«
Deliverance lachte. Ihr Gesicht wirkte grimmig. »Ungerechtigkeit?«, wiederholte sie. »An jener Mauer dort liegt das Sinnbild der Ungerechtigkeit.« Sie wies auf das elende, völlig gebrochene kleine Mädchen, das an der gegenüberliegenden Wand angekettet war. »An der Hexerei ist nichts Teuflisches – das zu sagen allein kommt schon einer Gotteslästerung nahe -, aber eine Hexe bin ich dennoch. Wie kann ich verschwinden und Unschuldige zurücklassen, die an meiner Stelle sterben?« Sie strich Mercy über die Wange und hob das Kinn ihrer Tochter an, um ihr in die Augen zu schauen. »Was würde ein solches Handeln über meine unsterbliche Seele aussagen?«
Deliverance ließ Mercy nicht aus den Augen, und ihrer Tochter wurde zum ersten Mal bewusst, dass sie ihren Plan
nicht durchführen konnte. Wie hatte sie sich das nur gedacht? Von ihrer Mutter zu verlangen, ihr ewiges Leben und die Hoffnung auf göttliche Erlösung aufs Spiel zu setzen, nur damit sie in diesem Leben noch ein paar läppische Jahre zusammen verbringen konnten? Als sie das begriff, wurde Mercy auch ihre eigene Selbstsucht bewusst, und es trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht. Ich bin ein böses, verdorbenes Mädchen, dachte Mercy voller Selbstverachtung, denn obwohl sie wusste, was zu geschehen hatte, sehnte sie sich so sehr danach, dass ihre Mutter mit ihr kommen würde.
Während all dieser unangenehmen Gedanken in Mercy im Widerstreit lagen und ihr Gesicht in tiefe Kummerfalten legten, merkte sie, wie ihre Mutter mit ihrem Haar spielte. »Nun hör mir mal zu, meine Tochter«, sagte Deliverance mit ernster Miene. »Du
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