Das Hexenbuch von Salem
wirst die Stadt Salem verlassen. Ich dulde keine Widerrede.« Sie hob eine Hand, um Mercys Einwände im Keim zu ersticken. »Du siehst ja an der armen Dorcas, dass das Gericht auch innerhalb der Familien nach Hexen sucht. Du musst fort von hier.«
Vor Mercys innerem Auge stand plötzlich ein Bild ihres Lebens, wie es bald sein würde – gleich einem kahlen, leeren, kalten Flur. Alles, was sie kannte, war in Salem zuhause: ihre Freunde, die Freunde ihrer Mutter, ihr Bethaus. Ihr Vater war dort begraben. Schon bald würde auch ihre Mutter dort begraben sein. Bei diesem Gedanken bebten ihre Lippen, und die Panik, die in Krämpfen in ihrem Bauch begann, stieg hoch bis hinter ihre Rippen, die Beine hinab und bis in die Hände, die den Stoff ihrer Schürze kneteten und walkten.
»Tochter«, sagte ihre Mutter, fasste Mercy abermals am Kinn und zwang sie dazu, ihr ins Gesicht zu schauen. »Alles ist geplant. Unser Haus habe ich schon vor vielen Monaten an Gevatter Bartlett verkauft, weißt du noch, nachdem Mary Sibley zu uns gekommen war? Ich sah einiges von dem, was
passiert ist, beim Ei-in-Wasser-Zauber, wusste aber nicht genau, wann es geschehen würde. Von dem Erlös erwarb ich ein kleines Haus oben in Marblehead, das schon fast fertig ist. Es liegt in der Milk Street, steht ganz allein am Ende einer langen Allee, gut verborgen in einem Gehölz.«
Während Deliverance dies sagte, zog eine Abfolge aus Verwirrung, Überraschung und Furcht über Mercys Gesicht hinweg wie ein Gewittersturm, während sie zu begreifen suchte, was ihre Mutter ihr da sagte. Das Haus? Es war verkauft? Schon mehr als sechs Monate gehörte es ihnen gar nicht mehr? Aber sie kannte niemanden in Marblehead!
»Ich möchte, dass du das Buch mit den Rezepturen und die Bibel nimmst und verschwindest«, fuhr Deliverance fort. »Du kannst die braune Stute von Gevatterin Bartlett ausborgen. Gevatter Bartlett weiß von unseren Plänen und kann dabei helfen, die Möbel wegzubringen, wenn die Vorsehung es zulässt.«
Mercy blickte ihrer Mutter ins Gesicht und erkannte, wie unverrückbar ihr Wille war. Nicht zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie, so zielstrebig sein zu können wie sie. So würde sie also ganz auf sich gestellt sein – und nach dem morgigen Tag würde sie wirklich und im wahrsten Sinne des Wortes mutterseelenallein sein. Mercy schlang die Arme um sich selbst und versuchte, ihre Angst und Verzweiflung im Zaum zu halten.
»Mercy«, sagte Deliverance sanft und strich mit den Fingerspitzen über das tränenfeuchte Gesicht ihrer Tochter. »Im Neuen Testament, bei Matthäus, steht, dass Gott zu Petrus sprach, auf diesen Felsen solle er seine Kirche bauen.« Sie strich zärtlich mit der Kuppe ihres Daumens über Mercys Augenbraue und lächelte.
»Du bist dieser Petrus, meine Tochter. Du bist der Stein, auf den diese Kirche gebaut wird. Denn durch dich wird Seine
Macht in ihrer unendlichen Güte auf Erden spürbar sein. Und du sollst deine Tage unbehelligt und ohne Furcht verbringen können. Du musst dich in Sicherheit bringen, und dann darfst du nicht versäumen, dein Gewerbe wieder auszuüben, denn es ist Gottes Werk, was du tust.«
»Aber Mama«, erwiderte Mercy mit brechender Stimme, überwältigt von der Erkenntnis, wie klein, schwach und machtlos sie doch angesichts all dessen war, was auf sie zukommen würde.
Deliverance brachte sie zum Schweigen, indem sie einen Finger auf ihre Lippen legte und fest den Kopf schüttelte. »Genug. Ich möchte, dass du heute Nacht schon fortgehst. Und du sollst morgen nicht zum westlichen Hügel kommen.«
Bei diesen letzten Worten legte Mercy den Kopf in den Schoß ihrer Mutter und begann ein leises Wehklagen. So saßen sie mehrere Stunden da, während es draußen vor dem winzigen Fenster über ihren Köpfen zuerst dämmerte, dann dunkelte und erneut ein dünnes, wässrig-graues Licht hereinsickerte.
Die Menschenmenge auf dem westlichen Hügel vor der Stadt Salem hatte schon vor Stunden begonnen, sich zu versammeln. Festlich gekleidete Männer und Frauen eilten geschäftig in Richtung Hügel, die maßlose Erregung auf ihren Gesichtern kaum unter einem falschen Ernst verborgen. In dem Stimmengewirr schlug ein jeder einen lauteren Ton an als sonst, ein schrilles, kreischendes Miasma der Selbstgerechtigkeit und der Vorfreude. Frauen standen in Grüppchen schwatzend zusammen, vesperten mit dem Brot und dem Käse, die sie sich als Proviant in kleinen Beuteln um den Leib gebunden hatten. Eine
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