Das Hexenbuch von Salem
des Leibes«, las Connie leise vor. Sie faltete die Karte zu einem kleinen Viereck, beugte sich vor und hauchte einen Kuss auf Sams Stirn, während sie die Karte mit dem Zauberspruch in den Kissenbezug unter Sams Kopf steckte. Er schnarchte leise vor sich hin, und Connie schaute auf ihn hinab. Ihr Gesicht wurde weich. »Das hier muss einfach funktionieren«, sagte sie zu sich selbst, aber vielleicht war es auch eine Bitte an das ganze Universum.
Dann durchquerte sie den Raum auf leisen Sohlen und schlüpfte durch die Tür hinaus.
INTERLUDIUM
BOSTON, MASSACHUSETTS
I8. JULI I692
D urch den schmutzigen Gefängnisflur hallten Stimmen – die einer jungen Frau im heftigen Disput mit einem verdrießlichen Mann. Die Gefangenen in den engen, vor Dreck starrenden Zellen hoben die Köpfe und lauschten. Mal wurde der Lärm lauter, mal leiser, und Schlüsselklirren war das Zeichen dafür, dass die Tür am Ende des Ganges geöffnet wurde. Ungewaschene Gesichter drückten sich gegen die schmalen Öffnungen am oberen Ende der Zellentüren: hier George Burroughs, ein abgesetzter Priester aus dem Dorfe Salem, das Haar lang und verfilzt; dort Wilmott Redd, ein plumpes Fischweib aus Marblehead, das sonst fröhliche Gesicht schmal und von Kummer zerfurcht.
Mercy Dane schaute mit Sorge auf die Gesichter und schob durch jede Zellentür ein dickes, hartes Stück Zwieback. Sie hatte nicht gewusst, wie viel sie mitbringen sollte. Sarah Bartlett hatte ihr gesagt, es sei am besten, einfach so viel mitzubringen, wie sie entbehren konnte. Hände streckten sich ihr aus den Türschlitzen entgegen, grabschten nach der armseligen Mahlzeit, und die meisten der Insassen waren sogar zu erschöpft, um sich zu bedanken. Mercy ging langsam an den Zellentüren entlang, verteilte ihr Brot und blieb schließlich vor der letzten Zelle stehen. Als sie durch den Schlitz spähte, konnte sie nur zwei menschliche Gestalten erkennen, die zusammengekauert in der Dunkelheit lagen; das eine offenbar
ein kleines Mädchen, in der hintersten Ecke zu einem Häuflein zusammengesunken und nur mit einem fleckigen Unterhemd bekleidet, die andere eine Frau, die aufrecht dasaß, den Kopf gegen die Steinmauer gelehnt, den Rücken zur Tür. Auf dem Boden war eine dünne Schicht Stroh verstreut, und der Geruch nach Moder war schier überwältigend. Die Zelle war nur notdürftig durch ein kleines, vergittertes, viereckiges Fenster hoch über den Köpfen der Insassen erhellt, wobei das ganze Sonnenlicht durch die Stiefelabsätze eines Müßiggängers verdeckt wurde, der draußen auf der Straße stand.
»Mama?«, flüsterte Mercy durch die Zellentür. Die Gestalt in der Zelle rührte sich nicht. Mercy blickte sich rasch um, damit sie niemand beobachtete, hob die Hand an das Schloss der Zellentür und flüsterte eine lange Litanei lateinischer Worte. Aus dem tiefsten Inneren ihrer Handfläche erblühte ein blaues Licht, warm und knisternd, und drängte sich über die Oberfläche ihrer Haut nach außen, wo es das rostige Metall des Schlosses einhüllte. Als das Glühen schwächer wurde, drückte Mercy mit den Fingerspitzen gegen die schwere Holztür und spürte, wie sie unter ihrem Druck nachgab. Sie schob sich durch den Spalt, der sich öffnete, und schloss ihn ganz leise hinter sich.
»Mama?«, flüsterte sie noch einmal und näherte sich geduckt der zusammengesunkenen Gestalt auf dem Boden. Als sie die zartgliedrige Frau in der Zelle erreicht hatte, ging sie in die Knie und legte sanft eine Hand auf die Schulter ihrer Mutter. Langsam wandte Deliverance Dane den Kopf und sah Mercy. Wiedererkennen flackerte in ihren Augen auf wie ein Licht.
»Mercy?«, fragte sie blinzelnd. »Aber wie bist du hier …« Ihr versagte die Stimme, und sie drückte ihre zitternde Tochter an ihre Brust. Mercy barg das Gesicht an Deliverances
Hals, schlang ihr den Arm um die Leibesmitte und atmete tief den tröstlichen Duft ein, den die Haut ihrer Mutter verströmte.
»Ich hab ihnen gesagt, ich sei gekommen, um die Rechnung zu bezahlen, die sie mir geschickt haben«, sagte sie. Ihre Stimme wurde durch die Falten an Deliverances Kragen gedämpft. »Und dann habe ich ein bisschen nachgeholfen, um hier reinzukommen.«
Deliverance strich das lange Haar beiseite, das Mercy bis über den Rücken fiel, und wiegte sie ein wenig hin und her. Sie lächelte. »Und woher hattest du das Geld für ein solches Unterfangen?«, fragte sie. Mercy merkte es ihrer Stimme an, dass Deliverance stolz auf sie
Weitere Kostenlose Bücher