Das Hexenbuch von Salem
die Lippen bewegte, doch sie hätte nicht sagen können, ob es ein Zauberspruch oder ein Gebet war, das sie sprach. Ein Maiskolben segelte an ihr vorbei und verfehlte Deliverances Hals nur knapp, aber sie zuckte nicht einmal mit der Wimper. Mercy straffte die Schultern und richtete ihren ganzen Willen darauf, die Kraft zu empfinden, die sie im Gesicht ihrer Mutter deutlich erkannte.
Der Karren wurde langsamer, weil durch die dichte Menge, die von allen Seiten auf ihn einströmte, kaum mehr ein Durchkommen war, näherte sich aber dennoch unaufhaltsam dem Galgen auf der Hügelkuppe. Der Lärm, der in der Menge aufbrodelte und nach oben stieg, war so intensiv, dass Mercy ihn fast zu sehen glaubte, wie er, einer gelblich-schwarzen Wolke gleich, aus den gaffenden Mündern und wütenden Augen der Dörfler emporstieg. Rumpelnd kam der Karren ein paar Fuß vor dem Galgen zum Stehen, und als man die sechs Frauen von ihrem Gefährt herunterführte, drängte sich die Menge noch näher an sie heran, als wollte sie sich ihrer bemächtigen. Nur die verschränkten Arme und Beschwichtigungen
einer kleinen Gruppe von Priestern konnte sie davon abhalten. Mit Ketten an den Handgelenken gefesselt, wurden die sechs Frauen auf die hölzerne Empore geführt, und Mercys Griff um das dicke Lederzaumzeug ihres Rosses wurde unwillkürlich fester, was die braune Stute mit dem Kinn zucken und wiehern ließ.
Nun wurden die Frauen einzeln an ihren Fesseln zu den hängenden Stricken geführt, die vom Galgen baumelnd auf sie warteten wie sechs fette Schlangen. Ein Richter stieg die Stufen des Gerüsts hoch, hakte wichtigtuerisch die Daumen in das Revers seines Übermantels und blickte über die Menge hinweg. Ein verfaulter Kürbis landete direkt zu seinen Füßen auf der Plattform, und er zog eine finstere Miene und klatschte mehrfach in die Hände, um der Menge zu bedeuten, sich zu sammeln. Langsam breitete sich Stille aus, die im Schatten des Galgens begann und sich in zuckenden Wellen in der Zuschauermenge ausbreitete. Mercy spürte, wie das Brodeln sich zu einem leisen Simmern herabsenkte.
»Susannah Martin«, begann der Richter, und seine Stimme bebte, als könnte er damit seiner eingebildeten Würde noch mehr Gewicht verleihen, »Sarah Wildes, Rebecca Nurse, Sarah Good, Elizabeth Howe und Deliverance Dane! Ihr seid dem höchst ehrenwerten Anhörungsgericht vorgeführt worden, das in der Stadt Salem zusammentrat, und für schuldig befunden worden des ruchlosen und teuflischen Verbrechens der Hexerei, welches als ein Vergehen gegen die Natur Gottes, des Herrn, mit dem Tode zu bestrafen ist. Möchte eine von Euch ein Geständnis ablegen und dabei die Kräfte benennen, die hinter Eurem schändlichen Tun stecken? Wollt Ihr tun, was Eure Pflicht ist, nämlich Eure Gemeinde zu reinigen, welche in ihrem Ringen gegen eine mit Sünde belastete Wildnis ganz allein steht, und sie von dem Bösen befreien, das in unserer Mitte lebt?«
Die sechs Frauen standen da und sagten nichts, einige mit gesenktem Haupt, andere mit geschlossenen Augen, die Wangen zuckend. Einer der Priester, ein aufgeregter junger Mann aus dem nahegelegenen Beverley Farms, trat von seinem Platz direkt hinter dem Richter nach vorne, die Hände krampfhaft um eine kleine Bibel geschlossen. Mercys Augen wurden schmal, und sie bemühte sich nach Kräften, zu verstehen, was der Priester sagte.
Seine Stimme hatte nicht die Tragweite der des Richters, doch er schien jede einzelne der Frauen dazu bewegen zu wollen, sich der Hexerei schuldig zu bekennen. Sollte sie gestehen und sich Jesus dem Herrn unterwerfen, so werde sie geschont, sofern sie nur die Namen der anderen in der Stadt benenne, die in ihrem teuflischen Tun ihre Verbündeten seien. Das schloss Mercy aus den Wortfetzen, die sie aufschnappte, und ihre Vermutung wurde bestätigt, als der Mann zu Sarah Good kam, die ihn mit einem wilden Blick bedachte, während ihre geistige Verstörtheit durch ihre sichtbare Wut noch stärker zum Ausdruck kam.
»Ich, eine Hexe!«, schrie sie, und die Menge hielt den Atem an. Sie warf Deliverance einen finsteren Blick zu, reckte dann das Kinn in Richtung Zuschauer und bellte: » Ich bin genauso wenig eine Hexe wie Ihr ein Hexer, und wenn Ihr mir das Leben nehmt, dann wird Gott Euch Blut zu trinken geben!«
Bei diesem Ausbruch tobte die Menge vor Wut, noch mehr verdorbenes Gemüse regnete auf die Frauen am Galgen herab, und man schleuderte ihnen böse Flüche und Verwünschungen entgegen. Mercy
Weitere Kostenlose Bücher