Das Hexenbuch von Salem
lautete eine Erklärung, der Connie bei ihren Nachforschungen schon oft begegnet war; sie stand da wie eine Brustwehr, mit der man die Nicht-Neuengländer in Schach hielt. Flüchtig durchlief sie eine Welle des Mitgefühls für Grace und ihren jugendlichen Willen aufzubegehren. Grannas Haushalt war bestimmt nach einem ähnlichen Ordnungssystem organisiert gewesen, bei dem Fortschritt und Veränderung auf der Strecke blieben.
»Wenn das so ist, würden Sie mir dann freundlicherweise die Abteilung mit den Namen zeigen, die mit D anfangen?«, sagte Connie mit einem knappen Lächeln.
»Kartenkatalog ist da drüben«, sagte die Frau und zeigte zur linken Hälfte des Raumes. Dann drehte sie sich ohne weiteren Kommentar auf den Fersen ihrer Mokassins um und verschwand durch eine kleine Tür, auf der ZUGANG NUR FÜR MITARBEITER stand.
»Tausend Dank«, sagte Connie an den leeren Raum gerichtet, ließ ihre Schultertasche auf einen langen Lesetisch fallen und wandte sich an die Katalogkästen.
Sie wusste, wenn Deliverance vor ihrem Mann gestorben war (vorausgesetzt, sie war verheiratet gewesen), wäre ihr gesamter Besitz automatisch an ihn übergegangen. Hatte sie ihn dagegen überlebt, dann hätte sie per Gesetz mindestens ein Drittel davon geerbt, während der Rest unter
den eventuell vorhandenen Kindern aufgeteilt worden wäre. Kniffliger wurde die Sache, wenn sie nie verheiratet gewesen war, aber das wäre in jenen frühen Siedlerzeiten sehr ungewöhnlich gewesen. Connie dachte über die Tatsache nach, dass sie keinerlei Hinweise darauf hatte, wie alt Deliverance während der Hexenprozesse gewesen war. Statistisch gesehen waren die meisten angeklagten Hexen Frauen mittleren Alters gewesen, von etwa vierzig bis Mitte sechzig – das Alter, in dem die Frauen in der Kolonie den Höhepunkt ihrer gesellschaftlichen Macht erreicht hatten. Angeklagte Hexen wichen gewöhnlich in irgendeinem verdächtigen Bereich von der Norm ab: Sie hatten weniger Kinder als der Durchschnitt, oder sie standen aus wirtschaftlichen Gründen am Rande der Gesellschaft. Wenn Deliverance als Hexe der Statistik folgte, dann bestanden gute Chancen, dass sie eine ältere Frau, möglicherweise Witwe war und vielleicht gar keine Kinder hatte.
Da die Nachlassakten aktive juristische Dokumente waren, wurden sie trotz ihres Alters im selben Ordnungsprinzip geführt wie die jüngeren Unterlagen, und es wurden zu ihrer Erhaltung auch keine besonderen Maßnahmen getroffen. Connie ackerte sich durch die vielen Reihen von metallenen Hängedateien durch, bis sie schließlich auf eine nummerierte Schublade mit der Aufschrift NACHLASS: DAM-DANFORTH stieß. Sie zog die leicht klemmende Schublade heraus und wurde von einer Staubwolke begrüßt, die aus den hunderten von Mappen aufstieg. Jede einzelne Akte stand für ein Menschenleben, und in jeder Mappe verbarg sich der Schlüssel zu Persönlichkeiten, die längst verstorben, und zu familiären Vorgängen, die längst vergessen waren. Da ging es um Höfe, die in immer kleinere Parzellen aufgeteilt worden waren. Um Eheversprechen, die eingehalten oder gelöst wurden. Sie war schon immer von all den Lebensgeschichten
berührt gewesen, die manchmal in so nüchtern wirkenden Archiven schlummerten. Doch es war Sams Begeisterung gewesen, die diesen Entdeckergeist in ihr wieder zum Leben erweckt hatte. Ich frage mich, ob Marcy Lamson hier irgendwo steckt, dachte sie, als sie begann, die Ordner durchzublättern. Die Erinnerung an das lächelnde Gesicht der älteren Frau verweilte im Hintergrund ihres Bewusstseins, während sie die Finger über die Reiter der schmutzigen Mappen wandern ließ.
Dann schließlich, eingezwängt zwischen DANEFIELD, HARVEY, I934, und DANEFIELD, JANICE, 23. Februar I888, fiel ihr eine dünne, schmutzige Mappe aus zerbröselndem Karton in die Hände, auf der nur D. DANE stand. Connie zog sie aus dem Versteck heraus, wobei ihr ursprünglicher Ärger über die falsche Ablage rasch ihrer Erregung über die Entdeckung Platz machte. Sie ließ sich am Tisch nieder und begann zu lesen.
Nachlassakten aus dem zwanzigsten Jahrhundert hatten stets ein offiziell aussehendes, getipptes Deckblatt mit dem Datum, an dem das Testament vollstreckt worden war, sowie den Unterschriften der Vollstrecker und dem staatlichen Schreiber, gefolgt von vielen dicken Seiten voller Einzelheiten des Nachlasses, in schwerem Juristenjargon abgefasst. Ein flüchtiger Blick zeigte, dass diese Deckblätter offenbar sehr geläufig
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