Das Hexenbuch von Salem
Vielleicht.
Sam nahm Connies Hand und zog sie hinter sich her, während er auf die Steinmauer zuging, aber Connie sträubte sich. »Sam!«, flüsterte sie. »Was machst du denn? Wir können doch nicht einfach bei jemandem in den Garten einsteigen!«
»Pssst!«, machte Sam und lächelte. »Die sind bestimmt nicht zuhause. Und für den Fall der Fälle schleichen wir uns auf Zehenspitzen ran.«
»Sam!«, zischte sie. Ihre Angst wurde durch die freudige Erregung in ihr noch größer.
»Komm schon!« Er packte ihre Hand fester. Connie genoss das warme Gefühl seiner Haut, die glatt, aber schwielig war, und ließ sich von ihm an der Steinmauer entlangziehen, bis sie zu einem kleinen Wäldchen gelangten, das zwischen zweien der Häuser lag. Schließlich blieb Sam vor einem Granitblock stehen, der etwa einen halben Meter hoch war und aus der Steinmauer hervorstand. Die Mauer und die umstehenden Bäume warfen dicke Schatten auf den Block, und Connie schaute sich nervös zu dem näheren der beiden Häuser um, sicher, dass jeden Augenblick ein Gesicht hinter einem Vorhang auftauchen oder das plötzliche Einschalten eines Verandalichts zeigen würde, dass man sie erwischt
hatte. »Halt mal kurz«, murmelte Sam und wühlte in einer Tasche seines Overalls. Connie hörte ein Ratschen und Zischen, und der Geruch nach Schwefel stieg ihr in genau dem Moment in die Nase, als die Flamme eines Streichholzes sich entzündete. »Okay«, sagte er und ging in die Hocke, um das Hölzchen in die Nähe des Granitblocks zu halten.
Connie ging neben ihm auf die Knie und schaute sich den Granitblock genauer an, der jetzt von einem gelben Lichtkreis beschienen war, wodurch die Oberfläche des Steins ihre Dreidimensionalität verlor und zur flachen Ebene wurde. In den Block eingeritzt war ein einfaches Strichmännchen, etwa dreißig Zentimeter lang, das einen Hut oder eine sonstige Kopfbedeckung trug und Hände und Füße ausstreckte. Gleich neben der linken Hand war ein fünfzackiger Stern eingeritzt, rechts davon eine Mondsichel, neben dem linken Fuß eine Sonne, neben dem rechten eine Schlange oder Eidechse. Das ganze Bild war ungenau und dilettantisch; noch immer waren Spuren auf dem Stein zu sehen, wo der Meißel ausgerutscht war. Offensichtlich war es nicht von einem Steinmetz oder sonst einem Menschen angefertigt worden, der dieses Handwerk gelernt hatte. Über dem groben Bild war in Großbuchstaben ein einzelnes Wort eingeritzt. Es lautete: TETRAGRAMMATON.
Connies Augen weiteten sich, weil sie unsicher war, was sie da genau vor sich hatte. »Was ist das?«, wisperte sie. »Ich verstehe nicht, was ich da sehe.«
»Das, meine rationalistische Freundin, ist ein Grenzstein«, erwiderte Sam, wedelte mit der Hand, um die Streichholzflamme zu löschen, und warf das Hölzchen ins Gras. Er zündete ein neues an, bevor er fortfuhr: »In den frühen Siedlerzeiten war es üblich, bevor man sich die Mühe machte, einen Zaun zu bauen, die Grenzen eines Grundstücks mit jeweils einem großen, sichtbaren Steinblock an jeder Ecke des Geländes
zu kennzeichnen. Wenn du dich in der Altstadt umschaust, wirst du überall solche Steine sehen, manchmal sogar gleich neben der Eingangstür eines Hauses, wenn das Grundstück sehr klein war.«
»Richtig«, sagte Connie. »Ich glaube, ein paar davon habe ich gesehen. Aber was da eingeritzt ist …«
»Deshalb wollte ich dir das ja auch zeigen. Ich habe ihn unter einem alten Komposthaufen gefunden, als ich die Mauer für die neuen Besitzer auf ihre Tragfähigkeit geprüft habe. Seit ich den Block hier gefunden habe, bin ich noch auf ein paar weitere gestoßen, die auch solche eingeritzten Bilder zeigen, aber die meisten Zeichnungen waren verwittert. Die Linien sind nicht sehr tief eingeritzt, ich vermute deshalb, weil derjenige, der das getan hat, nicht wirklich wusste, was er da machte. Das Bild hier ist das deutlichste, das ich bisher gefunden habe.«
»Aber Tetragrammaton ?«, fragte Connie. »Was bedeutet das? Warum schreibt jemand so etwas auf einen Grenzstein, anstatt einfach zu schreiben: ›Dieses Grundstück gehört Soundso‹?«
Sam zuckte mit den Achseln und löschte das zweite Streichholz. »Ich weiß nicht, was die Symbole zu bedeuten haben, aber soweit ich das beurteilen kann, könnte es eine Art Beschwörung sein. Um das Böse abzuwehren.«
»Das Böse, hu«, sagte Connie.
»Ich mein ja bloß. Es liegt vollkommen im Bereich der Möglichkeiten, dass damals Leute Hexerei betrieben haben. Wenn
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