Das Hexenbuch von Salem
Küche, eine Bettstatt mit Weißwäsche und Federbetten, den wertvollsten Gegenständen in ihrem Haus. Zum Spaß fügte Connie noch rasch ein paar Kräuter und Blumen hinzu, die zum Trocknen von der Decke hingen. Die Frau in ihrer Phantasie verschränkte die Arme.
Connies inneres Auge wandte sich von der Szene im Haus ab und stellte sich einen Gemüsegarten rund ums Haus vor – Grüngemüse und Erbsen wahrscheinlich, zusammen mit Wurzelgemüse, das im Winter gehortet werden konnte, sowie ein oder zwei Obstbäume. Gleich neben dem Haus lagerte ein Haufen Brennholz, das Deliverance entweder selbst hackte oder bei einer anderen Familie eintauschte. Connie stellte sich einen grob gezimmerten hölzernen Stall für das Schwein vor – dem sie schwarze und weiße Flecken sowie Hängeohren gab – und fügte einen schlichten Schuppen im hinteren Teil des Gartens für die »Milchku« hinzu. Schließlich vervollständigte sie das Bild mit einer Schar »Hüner«, die gleich neben dem Haupteingang des imaginären Hauses
im Dreck pickten. Dann betrachtete sie das Bild aus etwas größerer Distanz und wandte sich Deliverances Leben zu.
Aus dieser Warte wirkte Deliverance wie ein Mensch, der allein stehend, aber durchaus tüchtig war. Sie konnte sich weitestgehend selbstständig ernähren und mit einigen einfachen Dingen wie Eiern und Käse, vielleicht auch durch Dienstleistungen wie Waschen oder Flickarbeiten, mit ihren Nachbarn Handel treiben. Allerdings war Deliverances Alter ohne eine Geburts- oder Todesurkunde ein Rätsel. Im Nachlass wurde eine einzige Tochter namens Mercy aufgeführt. Deliverance konnte eine junge Witwe gewesen sein, überlegte Connie – die vielleicht keine Zeit mehr gehabt hatte, noch einmal zu heiraten oder Kinder zu bekommen, bevor sie hingerichtet worden war. Doch wenn das der Fall sein sollte, dann wäre ihr Besitz vermutlich an ihren Vater oder einen anderen lebenden männlichen Verwandten gegangen, statt an ein Kind. Dass Mercy Dane das Erbe ihrer Mutter antrat, bedeutete, dass Mercy zwar volljährig, aber noch nicht verheiratet gewesen war. In diesem Fall wäre es in Deliverances Haus für die damalige Zeit ungewöhnlich menschenleer gewesen. Weder gab es dort eine Schar kleiner Kinder noch Knechte und Mägde oder ältere Verwandte, die im Haushalt lebten. Connie runzelte die Stirn, unsicher, was sie mit der Vorstellung von zwei allein lebenden Frauen, Mutter und Tochter, anfangen sollte.
Auch die »Klasflaschen« stellten ein Problem dar. Dass sie gesondert aufgeführt waren, statt unter »allerlei Haushaltswaren«, ließ den Schluss zu, dass man sie aus anderem Grunde einer Erwähnung wert erachtet hatte. Connie versuchte, einer reichhaltigen Sammlung von Glasflaschen in allen Formen und Größen in ihrer Vorstellung von Deliverances Lebensraum einen Platz zu geben, doch nirgendwo schienen sie so recht hineinzupassen. In ihrer Phantasie verteilte
sie einige auf dem Tisch und stellte ein paar andere in den Schrank. Warum hatte Deliverance bloß so viele gehabt? Connie lehnte sich mit vollem Gewicht auf den Tisch, die Ellbogen rechts und links aufgestützt, das Kinn in den Händen. Die Frau in ihrer Phantasie lächelte sie an.
»Miss?«, schlängelte sich eine Stimme an ihr Ohr.
»Ja?«, sagte sie, etwas irritiert. Die hutzelige Archivarin stand über Connie gebeugt und versuchte vergeblich, mit ihrem schmächtigen Körper Eindruck zu schinden.
»Wir schließen in einer halben Stunde.« Sie wies mit ihrer scharfen Nase auf eine Wanduhr, die an Schulzeiten erinnerte und über dem Kartenkatalog hing.
»Danke schön. Ich brauche nicht mehr lang.« Connie schaute der Archivarin hinterher, die sich hinter die Hängekarteien zurückzog, und wandte sich noch einmal dem Blatt Papier zu, das vor ihr lag.
Irgendetwas störte sie an diesem Nachlassverzeichnis. Etwas war seltsam daran, und sie zog sanft ihre Unterlippe zwischen die Zähne, während sie darüber nachgrübelte, was es wohl war. Die Besteuerung schien korrekt zu sein – der Besitz war wohl weder zu hoch noch zu tief geschätzt worden. Auch bei der Aufzählung des Viehs schien es sich um eine durchaus übliche Anzahl zu handeln. Bücher? In den meisten puritanischen Haushalten hätten sich wohl Bücher befunden – noch keine Romane, aber veröffentlichte Predigten, die man in Boston kaufen konnte, irgendwelche Traktate zur seelischen Erbauung, und gewiss eine Bibel.
» Bibel, Rezeptpuch «, las Connie laut vor.
Rezeptbuch?
Connie
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