Das Hexenbuch von Salem
aussah wie ein Schiffslogbuch, und tatsächlich stellte sich bei näherem Hinschauen heraus, dass es vom Kapitän eines Klippers geführt worden war, der vom Hafen Salem aus mit Guano-Dünger und Molasse handelte. Als Nächstes zog Connie ein Gesangbuch der Kongregationalistenkirche First Church by the Sea aus den Vierzigerjahren hervor. Hatte Granna das etwa einfach mitgehen lassen? Connie stieß verärgert den Atem aus und schob das Gesangbuch wieder ins Regal zurück, wo es jedoch auf einen gewissen Widerstand stieß, begleitet von einem sanften, knirschenden Geräusch. Vorsichtig steckte sie einen Finger hinter das Buch und rechnete bereits mit etwas Unappetitlichem – etwa einem Mäuseskelett oder dem Panzer eines Käfers. Stattdessen zog sie jedoch eine winzige Maiskolbenpuppe hervor, die in ein Stückchen Barchentstoff gehüllt war und einen Schleife aus Zwirn um den Hals hatte. Auf die Rundung des Maiskolbens, die den Kopf darstellte, hatte jemand ein breites, orangerotes Lächeln gemalt.
»Komisch«, murmelte Conny und drehte das kleine Männchen hin und her. Plötzlich piekste sie etwas, und als sie erschrocken den Daumen wegzog, trat ein rundes, hellrotes Kügelchen Blut aus den Rillen ihres Daumens.
»Autsch!«, sagte sie laut. Als sie genauer hinschaute, entdeckte sie eine schmale Nadel, die, immer noch eingefädelt, in den Falten des Kleidchens der Puppe steckte. Sie setzte das Püppchen auf den Kaminsims neben Graces und Lemuels Foto und steckte den Daumen in den Mund. Stirnrunzelnd betrachtete sie die Puppe, die sie orangerot angrinste. Die kleine Puppe schien zu alt zu sein, um noch ein Spielzeug von Grace zu sein, obwohl sie hinter einem Buch aus
jüngerer Zeit versteckt gewesen war. Vermutlich hatte sie Granna gehört, als sie noch ein kleines Mädchen war. Vielleicht hatte Grace ja eine Weile damit gespielt, sie versteckt und irgendwann vergessen. Connie würde sie fragen, wenn sie sie heute Abend anrief. Vorausgesetzt, Grace ging ans Telefon.
Eine weitere Stunde brachte sie damit zu, zwischen den Büchern auf Grannas Regal zu stöbern, doch es enthielt nur die Standardliteratur der neuenglischen Mittelklasse: ein paar Buchclubausgaben, zerlesen und ohne Schutzumschläge. Mehrere Geschichtsbücher aus dem neunzehnten Jahrhundert, drei oder vier Bücher mit Rechenaufgaben, ein Strategieratgeber für Bridge. Anthologie für Jachtsegler. Eine Hand voll Bücher über Gartenbau und Gartenarchitektur. Und, ja, auch Aufstieg und Fall des Römischen Reiches. Nichts war da, das ihre Hypothese untermauert hätte, und auch nichts – außer der ersten Bibel -, das aus dem siebzehnten Jahrhundert stammte.
Connie ließ den Blick im Wohnzimmer umherschweifen, wo er zuerst auf die vertrockneten Pflanzen fiel, die nach wie vor an den Fenstern hingen, und dann hinüber zum Chippendale-Sekretär wanderte. In ihren Augen leuchtete es auf. Sie lief hinüber, fuhr mit den Händen über das glatte, polierte Kirschholz, wusste aber nicht genau, was sie eigentlich zu ertasten suchte. Vielleicht eine Schublade, in die der alte Schlüssel passte? Sie hatte es bereits mit der Haustür und einigen der Truhen im Speisezimmer probiert, allerdings ohne Erfolg. Oft besaßen solche Sekretäre ein Geheimfach mit abnehmbarer Holzverkleidung in der Mitte, zwischen den Ablagefächern, das als Versteck für wichtige Dokumente diente. Ihre Finger stießen auf einen kleinen Vorsprung unter der Schreibplatte, und ihr Puls ging schneller. Eine verborgene Schublade vielleicht? Sie ging auf alle viere und schaute unter
den Schreibtisch. Keine Schublade – nur einfach eine kleine Holzlatte, die jemand etwas ungeschickt dort angenagelt hatte, der nicht wusste, wie man Holzmöbel aus der Kolonialzeit repariert. Connie musste über sich selbst grinsen. Lächerlich. In diesem Sekretär würde es kein verborgenes Buch geben. Darin befanden sich nur alte Quittungen vom Gemüsehändler, zerbröselnde Radiergummis und ein paar andere Überreste dessen, was Granna nach ihrem Tod hinterlassen hatte.
Langsam begann sich das Sonnenlicht von den Fenstern zurückzuziehen und wich der voranschreitenden Dämmerung. Im milden Licht des frühen Abends hatte Connie immer das Gefühl, in den Ecken des Hauses irgendwelche Bewegungen wahrzunehmen, die nur am Rande ihres Gesichtsfeldes existierten. Wenn sie sich dann in die entsprechende Richtung drehte, war alles blitzschnell verschwunden. Mäuse, vermutete sie, obwohl sie in den Mausefallen, die sie in
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