Das Hexenbuch von Salem
davon, dass sie Deliverances Buch nie finden würde.
Nun saß sie am Lesetisch und freute sich auf den Genuss, Einsicht in eine unvorstellbare rare Spezies der Primärquelle zu erhalten. Prudences Tagebuch erstreckte sich in mehreren Bänden von I74I, dem Jahr nach ihrer Heirat, bei der sie etwa sechsundzwanzig Jahre gewesen war, bis kurz vor ihrem Tode I798 – über hundert Jahre nach den Hexenprozessen von Salem. Connie schlug das Buch auf, ihre blassblauen Augen glänzten vor Erregung, und sie begann zu lesen, den Stift über ihrem Notizbuch gezückt.
1. . Januar I74I. Wirklich sehr kalt. Bin daheim geplieben.
2. Januar I74I. Immer noch kalt. Auch heute daheim geplieben.
3. Januar I74I. Schal fast fertig. Schnee.
4. Januar I74I. Mehr Schnee.
5. Januar I74I. Etwas milder. Hund bleipt im Bett.
Connie ließ den Kopf in die Hände sinken und stöhnte. Natürlich wäre es unrealistisch gewesen, lange, nachdenkliche Passagen über das Dasein als Frau im achtzehnten Jahrhundert zu erwarten, aber wirklich … Die Aussicht auf einen mühseligen Nachmittag, an dem sie sich durch die Banalitäten von Prudences Alltag kämpfen würde, brachte jegliche Erregung in ihr zum Versiegen, und es schien ihr, als versickere auch der letzte Rest davon im Boden unter ihren Füßen. Sie blätterte ein paar Seiten weiter.
25. März I747. Besuch bei Hannah Glover. Pringt ein Mädchen zur Welt. 3 Pfund erhalten. Kaffe.
Wieder voll konzentriert beugte sich Connie über den Text.
30. März I747. Im Garten gearbeitet.
3I. März I747. Kräuter gesammelt. Zum Drocknen ans Feuer gehänkt.
1. . April I747. Fühle mich unwol. Bin daheim geplieben.
2. April I747. Regen. Josiah in die Stadt gefahren. Pleibe daheim.
3. April I747. Weiter Regen. Zu Lizabet Coffin gerufen worden. Liekt in den Wehen.
4. April I747. Bei den Coffins. Lizabeth von Jungen entbunden. Tot geboren.
5. April I747. Bei den Coffins. Liza. Geht ir schlecht.
6. April I747. Bei den Coffins. Lizabet get es besser. 2 Pfund erhalten. Erpsen.
7. April I747. Nach Hause. Josiah zurück.
Connie arbeitete sich immer tiefer in das Tagebuch vor und fand mehrere Einträge fast identischen Inhalts. Sie mühte sich durch die nervtötend eintönigen Schilderungen, versuchte zwischen den Zeilen zu lesen, um auf Einzelheiten zu stoßen, bei denen Prudence vielleicht nicht daran gedacht hatte, sie ausdrücklich zu erwähnen. Natürlich war für eine Frau, die den größten Teil ihrer Nahrungsmittel selbst produzierte, das Wetter ein entscheidendes Thema für ihr Tagebuch. Wahrscheinlich hatte sie aus dem gleichen Grund auch einen Bauernalmanach zurate gezogen. Connie frustrierte es, dass diese ferne Tochter der schweigsamen Puritaner nicht über das kulturelle Wissen verfügt hatte, das nötig war, um über ihr inneres Leben zu reflektieren, doch diese Frustration war fehl am Platze. In mancher Hinsicht war der Alltag von Prudence ihr Inneres. Connie las weiter, arbeitete sich durch einen Wetterbericht nach dem anderen, las von gärtnerischen Vorhaben, vom Kommen und Gehen des mysteriösen Josiah und immer wieder über die Hilferufe von leidenden Frauen aus der Nachbarschaft. Plötzlich musste sie laut auflachen, weil die Antwort doch so deutlich auf der Hand lag.
»Natürlich!«, sagte Connie laut. »Prudence war Hebamme!« Der Bibliothekar starrte sie böse an.
»Ach, jetzt kommen Sie, ist doch keiner da!«, rief sie genervt durch den Saal.
»Pssst!«, machte er und hielt einen Finger an die Lippen.
Connie gluckste vergnügt vor sich hin und freute sich an ihrem kleinen Aufbegehren, während sie sich weiter Notizen machte. Vielleicht hatte sie teilweise auch deshalb ihrem Bedürfnis, sich gegen den Bibliothekar aufzulehnen, nachgegeben, um der schweigsamen Zurückhaltung, die Prudences Welt so enge Grenzen gesetzt hatte, etwas entgegenzusetzen. Je mehr sie las, desto mehr musste sie den Drang bekämpfen, vom Tisch aufzustehen und auf dem Mittelgang ein Rad zu schlagen. Fast hatte sie das Gefühl, sie sei es Prudence schuldig, sich ein wenig danebenzubenehmen.
Connie schrieb sich alle Fakten auf, die sie aus den Angaben im Tagebuch schließen konnte, indem sie versuchte, durch die eintönigen Einträge hindurch einen Blick auf das konkrete Leben zu werfen, das sie schilderten. Nach vier Stunden konzentrierten Arbeitens hatte sie jeden Eintrag von I745 bis ins Jahr I763 gelesen: fast zwei Jahrzehnte Wetterberichte, Schilderungen häuslicher Arbeit und der bezahlten
Weitere Kostenlose Bücher