Das Hexenbuch von Salem
die oft die kleine Patience (Patty genannt) mitnahm, im Garten arbeitete oder gelegentlich Prudence zu ihren Besuchen bei werdenden Müttern begleitete. Sie schienen mittlerweile zusammenzuwohnen, wobei nie erwähnt wurde, dass Mercy ihren Beitrag zum Haushaltsgeld leistete. Offenbar war sie von Prudence weniger aus freier Entscheidung denn aus Mitleid aufgenommen worden.
Warum Prudence in den vergangenen vier Jahren, bevor sie beschlossen, einen gemeinsamen Haushalt zu führen, ihre Mutter nie besucht hatte, konnte Connie nicht eruieren. Waren sie nicht gut miteinander ausgekommen? Natürlich betrachteten Mütter und Töchter mit starkem Charakter die Welt von sehr verschiedenen Standpunkten aus. Sie kräuselte die Nase, weil ihr auf unangenehme Weise bewusst wurde, dass hier eine Parallele zu ihrer eigenen Beziehung zu Grace vorlag. Oder im Übrigen auch zu Graces Beziehung zu Sophia. Connies Hypothese, was eine gestörte Beziehung zwischen Mercy und ihrer Tochter betraf, ließ sich durch einen Eintrag einige Jahre später in gewisser Weise stützen.
3. Dezember I760. Sehr kald. Patty unwohl. Mutter sucht nach ihrem Allmannach. Sehr böse, als sie erfährt, dass ich es der Gemein.bü. gespendet habe. Macht ihr einen Preiumschlag. Patty geht es besser.
Es war ein Eintrag, der Connie etwas ratlos machte. Die Art und Weise, wie Prudence ihr Tagebuch führte, war so kurz angebunden und auf das Notwendigste konzentriert, dass es ihr wie eine Überinterpretation erschien, daraus einen bestimmten Ton oder eine Absicht abzulesen. Dennoch kam ihr der Eintrag bedeutsam vor. Und er klang fast wütend. Connie legte die Stirn in ihre Hände und tippte mit den Fingern auf ihren Kopf, ihre Notizen fest im Blick.
Dann, I763, stieß Connie auf das Ereignis, das bereits im Kirchenarchiv und dem Nachlassamt seinen Schatten vorausgeworfen hatte. Sie wagte einen Blick über die Schulter zu dem jungen Bibliothekar hinter dem Schreibtisch und sah, dass er mit dem Einordnen von Büchern beschäftigt war. Unter dem Tisch zog sie heimlich an den Fingern ihrer Handschuhe, schlüpfte mit der linken Hand aus der warmen Baumwollhülle und strich rasch mit den bloßen Fingern über den Tisch hinweg und über die beschriebene Seite des Tagebuches. Auch Prudences Hand war über diese Seite gefahren, hatte beim Schreiben auf das Papier gedrückt. In der Tinte waren bestimmt winzige Hautpartikel von ihr enthalten, weil sie ihren Gänsekiel immer wieder angeleckt hatte, um ihn feucht zu halten, oder dort, wo sie ein Wort weggekratzt hatte. Connie versuchte, in dieses Reich, in dem Prudence und Mercy gelebt hatten, einzudringen und ein Gefühl dafür zu bekommen, was für ein Mensch diese längst verstorbene Prudence gewesen war. Schließlich blieben ihre Fingerspitzen auf einer Passage am Ende der Seite liegen, wo die Worte schwarz durcheinanderwuselten wie eine Schar Ameisen, die sich an einem toten Käfer gütlich tun.
I7. Februar I763. Graubel und Regen. Mutter geht es nich gut. Patty kümmert sich um sie. Sind daheim geplieben.
I8. Februar I763. Weiter Regen. Zu Lawrence Slatterys Frau gerufen worden. Patty geht hin. Sind daheim gebliepen.
I9. Februar I763. Nass und noch kälter. Mutter immer noch krank. Josiah in die Stadt, Doktor rufen. Mutter sehr böse. Patty bei den Slatterys.
20. Februar I763. Weiter Kälte. Mutter schläft, aber nur schlecht. Fragt nach Patty. Fragt nach Allmannach. Josiah nach Salem. Patty bei den Slatterys.
2I. Februar I763. Kald. Bin zuhause geplieben. Patty zurück. Mrs. Slattery hat entbunden. Erhalten 6 sh. 3 p.
22. Februar I763. Zu kald für Schnee. Bleibe daheim. Mutter sehr krank. Rev’d Bates kommt zu Besuch.
23. Februar I763. Kalt. Josiah kommt mit Dr. Hastings. Mutter will ihn nicht sehen. Fragt nach mir. Scheint sehr betrückt.
24. Februar I763. Zu kalt zum Schreiben. Mutter stirbt.
Connie hob den Kopf und schaute quer durch den Lesesaal mit seiner gewölbten Decke. Sie dachte an Deliverances Nachlassverzeichnis zurück, das wie eine teleskopische Linse funktioniert hatte, durch die sie zurück in die Vergangenheit und in das Wohnzimmer einer weit entfernten Frau schauen konnte. Hier hingegen hielt sie das Tagebuch der gesamten zweiten Lebenshälfte einer ganz anderen Frau in Händen, doch Connie hatte das Gefühl, sie sogar noch weniger zu kennen. Prudences kalter Pragmatismus, ihre hartnäckige Weigerung, ihre Gefühle zu offenbaren, ganz gleich, was ihre Kultur ihr vorschrieb, lag vor ihr
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