Das Hexenkreuz
dass es ein Ort sein sollte, an dem sie in Ruhe nachdenken konnte. Nicht
gerade einfach, wenn man zu den Hauptpersonen des Abends zählte, dachte sie.
Doch zu ihrer Verwunderung ließen sie die in und aus dem Saal strömenden Gäste
in Frieden. Sie grüßten die junge Braut zwar höflich, hielten sie jedoch auf
ihrem Weg nicht auf. Emilia entdeckte links eine offene Galerie, die ihr
verlassen schien. Sie beschloss, diese zu betreten. Von einer undefinierbaren
Eile angetrieben, lief sie den Gang entlang. Aus einem Erker kam ihr ein Paar
entgegen. Emilia erkannte in dem Mann einen der älteren Gäste. An seinem Arm
hing eine der blutjungen Tänzerinnen, die beharrlich Emilias Blick mied. Emilia
betrat nun selbst den kleinen Erker. Darin stand eine gepolsterte Bank. Doch
Emilia interessierte sich nur für die runde Maueröffnung, die den Blick auf den
funkelnden Nachthimmel freigab. An die Balustrade gelehnt, atmete sie die milde
Nachtluft ein. Eine einzelne Sternschnuppe schoss an ihr vorbei und verging
glühend in der Nacht. Das Gefühl, nicht mehr alleine zu sein, ließ sie
herumfahren. Hinter ihr stand eine kleine Nonne. Ihr Anblick rief in Emilia
eine nebulöse Erinnerung an eine unangenehme Begegnung wach. Die Schwester gab
ihr durch ein heftiges Winken zu verstehen, ihr zu folgen. Emilia dachte nicht
daran. „Wer seid Ihr? Und warum sollte ich Euch ohne Erklärung folgen?“
Die Nonne
fuhr mit ihrem Finger zum Mund und stieß ein erschrockenes „Psst“ aus.
Verstohlen sah sie sich um, dann flüsterte sie: „Euer Bruder Emanuele ist gekommen,
um Euch zu holen. Schnell, uns bleibt nicht viel Zeit. Kommt mit, bitte.“ Sie
packte Emilia fest an der Hand und zog sie mit erstaunlicher Kraft den Gang
entlang. Emilia wirkte plötzlich wie vor den Kopf gestoßen. Ohne Widerstand
ließ sie sich mitziehen. Die Erwähnung ihres Bruders hatte auf sie in etwa
dieselbe Wirkung ausgeübt, die man erzielte, wenn man einem Betrunkenen einen
Eimer kaltes Wasser ins Gesicht schüttete. Schlagartig konnte sie sich wieder
daran erinnern, wie ihr die Herzoginmutter die Droge eingeflößt hatte. So
richtig übel wurde Emilia dann, als sie an sich hinabsah. Sie steckte
tatsächlich in einem Hochzeitskleid! Was hatte das zu bedeuten? Verschwommene
Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf: Eine aufgescheuchte weibliche
Dienerschar, die sich an ihr zu schaffen machte, eine Kutschfahrt, eine
Kathedrale, ein Bischof, der Herzog…! Der Schock traf sie bis ins Mark: Mein
Gott, sie war längst mit dem Herzog verheiratet! Sie schwankte und hätte ihr
Gleichgewicht verloren, wenn die kleine Nonne sie nicht vehement gestützt
hätte. „Psst, da kommt jemand“, flüsterte sie. Hastig zog Filomena die erstarrte
Emilia in den Schatten einer weiteren Nische.
Auch Emilia
hörte es nun. Hohe Absätze hallten über die Steinfliesen und näherten sich
ihnen rasch, bis die Schritte direkt vor ihrer Nische haltmachten. „Da seid Ihr
ja, Schönste aller Damen! Wie sehr habe ich den Augenblick herbeigesehnt, Euch
endlich alleine zu begegnen. Eure wunderbaren Augen sind verlockender als der
Frühlingshimmel. Seit ich das erste Mal in sie hineingeblickt habe, bin ich
verloren. Wahrlich, Eure Schönheit raubt mir den Verstand.“ Der Mann ergriff
ungeniert Emilias zarte Hand, schob ihren weiten gebauschten Ärmel zurück und
begann hingebungsvoll ihre Armbeuge zu liebkosen.
Emilia zog
angesichts der gewagten Geste scharf die Luft ein und vergaß vor lauter Verblüffung,
ihm ihren Arm zu entziehen. Perplex starrte sie auf den Kopf des Mannes
hinunter, den eine modische Perücke zierte. Es war derselbe Mann, der vorhin
das Déjà-vu in ihr ausgelöst hatte. Natürlich hatte er ihr Aufbrechen bemerkt
und war ihr hierher gefolgt. Sie musste ihn schnellstens loswerden, aber wie?
Das, was seine Lippen mit ihrem Arm anstellten, war nicht unangenehm und
verwirrte sie. Endlich kam es ihr in den Sinn, ihm ihren Arm zu entziehen.
Plötzlich war Filomena neben ihr: „Giacomo Casanova, ich hätte es wissen
müssen. Ihr klebt am Saum einer schönen Frau wie die Schmeißfliege am Honig.“
„Comtesse
Filomena! Ihr seid das… Ich hatte Eure reizende Erscheinung schon vermisst.“
Der Mann wirkte nicht im Mindesten verlegen, sondern verbeugte sich nun galant
vor der jungen Nonne. Seine intelligenten Augen huschten interessiert zwischen
den beiden jungen Frauen hin und her. Ihm war nicht entgangen, dass sich
Filomena zunächst vor ihm versteckt hatte. Filomena
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