Das Hexenkreuz
Nachmittagszeit stellte sich Sergej
Iwanowitsch Wukolny, Fürst von Nowgorod, in der Villa Meraviglia ein. An seiner
Hand trippelte ein kleines Mädchen in einem himmelblauen Kostüm, unter deren
Häubchen ein Wust üppiger blonder Locken hervorquoll. Mit großen, verschreckten
Rehaugen blickte es in die Welt. Die kleine Alexandra, genannt Sascha, wäre
ohne die Pockennarben auf ihren zarten Wangen bezaubernd schön gewesen. Emilia
nahm die Kleine auf den Arm und herzte und küsste sie. „Wie ich mich freue,
dich kennenzulernen, liebste Sascha! Dein Vater hat gestern die ganze Zeit nur
von dir gesprochen. Und das hier ist Ludovico, mein kleiner Sohn.“ Sie zeigte
hinter sich, wo der knapp einjährige Vico dabei war, die ihm zuvor mühsam
angezogene Kleidung Stück für Stück wieder abzustreifen. Emilia zog eine
Grimasse. „Wie du siehst, zieht es mein Sohn vor, sich jedermann zu zeigen, wie
Gott ihn schuf.“
Rosig nackt
krabbelte Ludovico mit einem fröhlichem Jauchzer auf den Besuch zu. Er
schleifte ein kleines, bunt bemaltes Pferdchen aus Holz mit, dem sowohl ein
Bein und der Schweif fehlten. Nichtsdestotrotz bot er es Sascha als großzügiges
Gastgeschenk an. Sein Schalk war unwiderstehlich. Auf Saschas Lippen malte sich
ein zartes Lächeln ab. Sie nahm das Pferd, ließ die Hand ihres Vaters los und folgte
Vicos Krabbelspur. Sie ließen sich auf einem riesigen, zusammengenähten
Lammfell nieder.
Serafina
betrat den Salon. Sofort geriet der nackte Vico in ihr Gesichtsfeld und sie
runzelte die Stirn. Wäre das Tablett nicht gewesen, sie hätte sich sofort auf
ihn gestürzt.
„Lass ihn
doch“, meinte Emilia, die die Absicht ihrer Freundin erriet, „Wenn er sich doch
wohl dabei fühlt.“
„Du bist
viel zu nachsichtig mit ihm, Emilia. Was ist, wenn er sich erkältet?“
„Und du bist
wie immer zu ängstlich. Hier drin ist es doch heiß wie in einem Backofen. Puh,
ich würde es ihm am liebsten gleichtun und mich ebenfalls ausziehen, ehrlich.“
Serafina
antwortete mit einem entrüsteten Schnauben und einem Rucken ihres Kopfes in
Richtung des Gastes. Sergejs Augenbrauen waren bei Emilias Worten unmerklich in
die Höhe gefahren. Seine vorwitzige Miene zeigte deutlich, dass er der Letzte
wäre, der etwas gegen Emilias Wunsch einzuwenden gehabt hätte.
Nun bemerkte
Emilia, dass Sergej einen länglichen Koffer in der Hand hielt. „Oh, was habt Ihr
uns da mitgebracht, Fürst Wukolny?“, erkundigte sie sich neugierig.
„Meine
Geige. Und nennt mich doch bitte Sergej. Das Fürst klingt so förmlich, nun da
unsere Kinder so eng Freundschaft miteinander geschlossen haben.“ Er deutete
auf sie und grinste. Tatsächlich folgte die kleine Sascha Vicos Beispiel und
entledigte sich eben ihres Kleides. Immerhin konnte die hinzugestürzte Serafina
die Kleine überreden, ihr Hemd anzubehalten. Emilia brach in ein helles Lachen
aus und Sergej fiel mit seinem dröhnenden Bass darin ein. Noch immer lachend,
nahmen sie auf dem breiten Diwan Platz. Emilia hatte ihn nach orientalischer
Art mit bunten Seidenkissen bestückt. Serafina schenkte ihnen ein und gesellte
sich dann mit einer Näharbeit zu den Kindern, um die Kleinen im Auge zu
behalten.
Ohne
Umschweife, wie es ihrer Art entsprach, fragte Emilia den Fürsten: „Eure arme
Kleine hatte die Pocken? Wann?“
Über Sergejs
eben noch so fröhliches Gesicht zog ein Schatten. Emilia legte die Hand auf
seinen Arm und murmelte: „Verzeiht mir, ich wollte Euch nicht verletzen. Ihr
müsst nicht darüber sprechen, wenn Ihr nicht wollt.“
Er nahm ihre
Hand und küsste voller Zartheit ihre Fingerspitzen. „Nein, Ihr habt Recht. Es
ist nun zwei Jahre her, und darüber zu reden ist vielleicht ein Anfang. Damals
wütete eine schreckliche Pockenepidemie in Moskau. Ich befand mich zu dieser
Zeit auf der Krim und führte für meine Zarin Krieg gegen die Türken. Meine
gesamte Familie, Vater, Mutter, meine Frau und meine beiden Söhne erkrankten
und starben daran. Nur meine kleine Sascha hat Dank der Pflege einer ergebenen
Dienerin die Seuche überlebt. Aber um welchen Preis…“
Emilias Herz
zog sich angesichts des sichtlichen Kummers des großen Russen zusammen.
Ungewollt fühlte sie Zärtlichkeit für ihn in sich keimen. „Ich verstehe“,
flüsterte sie. „Es tut mir leid, dass ich die Wunde mit meiner Frage erneut
aufgerissen habe. Verzeiht der Neugierde einer Frau.“
„Da gibt es
nichts zu verzeihen. Es ist meine Schuld. Wenn ich nicht so auf Ruhm und Ehre
aus
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