Das Hexenkreuz
aber
galt es, Emilia zu beruhigen: „Mach dir nicht allzu viele Sorgen, Amore. Das
sind die Nachbeben unserer Seele. Wir haben in kurzer Zeit einfach zu viel
erlebt. Einen Mann zu töten und sich einem nächtlichen Bärenangriff zu stellen,
würde ganz anderen Kalibern aufs Gemüt schlagen. Kaum verwunderlich, dass wir
noch etwas zittrig sind. Wir sollten es positiv sehen: Allen Widrigkeiten zum
Trotz haben wir uns bisher als die Stärkeren erwiesen. Komm, wir sollten uns
wieder auf den Weg machen.“ Serafina erhob sich und wischte einige vorwitzige
Ameisen von ihrer Hose.
„Nein!“
Emilia blieb sitzen.
„Nein?“
Serafina stemmte die Hände in die Hüften. „Hast du denn gar nichts begriffen?
Wir müssen weiter.“
„Nein, wir
müssen bleiben. Es ist wichtig. Frag mich nicht warum, ich weiß es
einfach. Es hat nichts mit den Zigeunern zu tun, oder vielleicht doch…“ Emilia
suchte etwas zu erklären, auf das sie sich selbst keinen Reim machen konnte.
„Bitte, Serafina. Ich weiß selbst, wie verworren ich klinge. Aber ich glaube,
ich habe gestern Nacht von diesem Zigeunerlager geträumt ...“
Serafinas
Gedanken wirbelten durcheinander. Wer drang in Emilias Träume ein und warum? Oder
hatte Emilia, in ihrem Wunsch, die Darbietung der Zigeuner sehen zu wollen,
ihren Traum dahingehend umgedeutet? Ob bewusst oder unbewusst, aber konnte Emilia
gar die Empfänglichkeit ihrer Freundin für Spirituelles ausnutzen? Leider gab
es nur eine Methode herauszufinden, wer von ihnen Recht hatte: „Also gut. Wir
bleiben“, verkündete Serafina. Doch sie verlangte danach, mehr zu erfahren:
„Dieser Traum, den du hattest … Kannst du dich an etwas Bestimmtes erinnern?“
„Nur an eine
Frau. Sie war sehr groß und aufrecht, mit schulterlangem weißem Haar. Sie
wirkte wie eine Königin aus einer vergangenen Zeit.“ Emilia hielt jäh inne und alles
Blut strömte aus ihrem Gesicht. „Du warst es, Serafina!“, rief sie erschüttert.
„Du bist mir im Traum erschienen. Nur bist du da schon eine alte Frau gewesen.
Aber wie ist das möglich?“
Serafinas Stimme
bebte, als sie antwortete: „Nicht ich bin die Frau in deinem Traum gewesen,
sondern meine Großmutter, Serafina, die Ältere. Es ist meine Schuld…“
„Deine
Schuld?“, wiederholte Emilia verständnislos.
„Ja. Ich
habe mich an meinen Ahninnen versündigt, weil ich meine Gabe verleugnet habe.
Dabei ist die Gabe der Hellsicht ein kostbares Geschenk aus der Zeit der ersten
Menschen. Damals lebten wir mit der Mutter Erde im Einklang und konnten deren
Botschaften empfangen. Als Kind hat mich meine Großmutter häufig in meinen Träumen
besucht, um mich zu lehren, mit meinen Fähigkeiten umzugehen. Doch ich
fürchtete mich davor. Die Menschen lieben die Zauberinnen nicht. Aber seiner
Bestimmung kann man nicht entkommen.“
„Aber warum
erscheint deine Großmutter mir und nicht dir? Ich bin doch keine Zauberin…?“
„Nein, und
darüber solltest du froh sein. Glaube mir, Emilia, es ist eine Bürde, die nicht
einfach zu tragen ist.“ Sie berührte die Kette mit dem Hexenkreuz. Spürte ihre
Großmutter die drohende Gefahr ebenso wie sie? Hatte sie sie davor zu warnen
gesucht? Liebste Großmutter, bat Serafina sie im Stillen, bitte verzeih mir
meine Selbstsucht. Ich verspreche dir, von nun an, werde ich dich nicht mehr
abweisen. Ich werde sein, was ich bin... Serafina straffte sich wie
jemand, der frische Kraft gewonnen hatte. „Auf!“ Sie streckte Emilia ihre Hand
entgegen und zog sie hoch. „Warum bis heute Abend warten? Ebenso gut können wir
gleich in das Lager der Zigeuner gehen.“
Sie holten
die Pferde, die sich nur widerstrebend von der saftigen Wiese trennten und
marschierten mit ihnen den Hügel hinauf. Von dort aus hatten sie einen Überblick
auf die ausgedehnte Hügellandschaft und das kleine Dorf. Sie entdeckten das
Lager in einer Senke am Ostende des Dorfes, nahe am Waldrand. Es war eine
kümmerliche Ansammlung von neun Wagen, die kreisförmig um einen Platz
angeordnet standen. In einem provisorischen Pferch taten sich einige magere
Pferde, Maultiere und Ziegen an einem Ballen Stroh gütlich. Emilia war die
Enttäuschung deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie schien sich etwas
Großartigeres erwartet zu haben. Eine weitere Enttäuschung wartete auf sie in
Gestalt des ` unvergleichlichen exotischen Tiers aus fernen Landen ´. Es entpuppte
sich als ein von Räude heimgesuchtes Dromedar, das mit seinen kahlen Stellen
stark an einen bemoosten
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