Das Hexenkreuz
Käfig und prüfte die Reaktionen des Tigers. Der Trank wirkte. Sie beugte
sich hinaus und rief laut nach Ferrante. Er erschien fast sofort: „Was kann ich
tun?“
„Öffnet sein
Maul und haltet es weit offen.“ Er tat, wie ihm geheißen. Ein ekelhafter Geruch
von Fäulnis schlug ihnen entgegen. Serafina zog zwei stumpfe Holzstöckchen
hervor und setzte sie dem Tier links und rechts in den Rachen, um das Maul
gespreizt zu halten. Dann zog sie die riesige Zunge heraus und platzierte sie
zur Seite. Sie erkannte das Übel sofort. Der linke hintere Backenzahn hatte
sich entzündet und ein Abszess, groß wie ein Taubenei, hatte sich gebildet.
Zahn und Abszess mussten sofort entfernt werden. Alles Nötige lag bereit: Das Messer,
die Zange und die Nadel, saubere Stofflappen und eine Flasche mit verdünntem
Essig zur Wunddesinfektion. Ihre Mutter schwor darauf. Sie griff nach dem
Messer und einer kleinen Schüssel, um das Wundsekret darin aufzufangen. Dann
setzte sie das Messer an und schnitt beherzt tief ins Fleisch. Die Schale
füllte sich rasch mit Blut und Eiter. Serafina drückte den mit Essig getränkten
Lappen auf die Wunde. Nach dem Abszess kam der Backenzahn an die Reihe. Sie setzte
die Zange an und stemmte sich mit ihrem Stiefel gegen Ferrante. Sie zog, bis
ihr der Schweiß auf die Stirn trat. Schließlich löste sich der Zahn mit einem
hörbaren Plopp vom Kiefer. Sie spülte die Wunde aus und nähte sie sorgfältig zu.
Nach getaner Arbeit setzte sie sich auf und entdeckte, dass Emilia sich
näherte. Sie trug eine große dampfende Schale vor sich her. „Was ist das?“, rief
Serafina ihr zu.
„Suppe. Eine
kräftige, sämige Fleischsuppe. Ferrantes Mutter hat sie mir gegeben. Sie sagt,
sie wäre für den Tiger.“
„Für den
Tiger? Zeig her.“ Serafinas Misstrauen war geweckt. Wollte die Alte ihre
Bemühungen nachträglich zunichte machen, indem sie das Tier nun vergiftete? Mit
gesenkter Nase schnüffelte sie daran. Sie roch einwandfrei, doch dies musste
nichts bedeuten. Viele Gifte vollbrachten ihr tödliches Werk ohne jeden Geruch.
Plötzlich erschien die zwergenhafte Alte selbst, so leise und unerwartet wie
ein Geist. „Es ist gut“, sagte sie mit ihrer brüchigen Stimme und zeigte auf
den Topf. „Ihr könnt sie ihm ohne Argwohn verabreichen. Ihr habt gewonnen. Das
Tier soll leben. Die Suppe ist stark. Gebt sie ihm. Sie wird ihm Kraft verleihen.“
Sie verschwand wie ein Schatten.
Serafina war
sich jetzt sicher, dass die Greisin aufrichtig gesprochen hatte. Sie massierte
die Kehle des Tigers, um seinen Schluckreflex zu wecken. Mühsam flößte sie dem
Tiger die gesamte Suppe ein. Anschließend sammelte sie ihre Instrumente ein und
kletterte mit weichen Knien aus dem Käfig. Das Bedürfnis zu schlafen überkam
sie. Ferrante, der ihr bereits mehrmals Dank gesagt hatte, erkannte, dass der
junge Medicus sich nur noch mühsam auf den Beinen hielt. Er führte Serafina zu seinem
Wagen. Im Vergleich zu den anderen, die eher simplen Bauerngefährten ähnelten
und zum Schutz gegen Sonne oder Regen durch vielfach geflickte Planen geschützt
waren, hatte man diesen aus solidem Holz gezimmert und weiß angestrichen. Auf beiden
Längsseiten waren Pferde aufgemalt, auf denen schöne junge Zigeunerinnen
Kunststücke vorführten. Ferrante zog mit dem Fuß einen Schemel unter dem Wagen
hervor und platzierte ihn geschickt vor der rückwärtigen Tür. Serafina
kletterte hinein. Heiße stickige Luft, vermischt mit einem moschusartigen
Geruch, stieg ihr in die Nase. Das Innere lockte mit einer Unzahl bunter
Seidenkissen. Eine orientalische Orgie, der Raum eines Verführers. Kurz
flackerte in ihr das Gefühl einer unbestimmten Gefahr auf. Schon sank sie in
die wohltuende Weichheit der Matratze. Innerhalb von Sekunden war sie
eingeschlafen.
Emilia blieb
mit dem Anführer der Zigeuner allein zurück.
Seit dem
Mittag war es schwül gewesen und die Hitze des Tages wollte weiterhin nicht
weichen. Emilia erklärte Ferrante, dass sie ihre beiden Pferde in den Schatten
des nahen Waldes führen wolle. Auf Anweisung Ferrantes hatte ein junger Bursche
die Pferde bei ihrer Ankunft übernommen und sie in dem Pferch mit den anderen
Tieren untergebracht. Die gutmütige Stute hatte sich bestens arrangiert und
rasch Freundschaft mit ihresgleichen geschlossen. Der Araber hingegen drängte sich
in die letzte Ecke, als wäre es unter seiner Würde, mit dem einfachen
Pferdevolk zu verkehren - von den Maultieren und Ziegen ganz zu
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