Das Hexenkreuz
Baumstamm erinnerte. Außerdem besaß es einen
tückischen Blick, der jeden davor warnte, ihm zu nahe zu kommen. Ein
zusammengeschrumpftes Mütterchen, das wenig mehr maß als einen Meter, kümmerte
sich nichtsdestotrotz mit rührender Fürsorge um das Tier. Sie stand im Begriff,
einige kahle Stellen mit einem grünlichen Brei zu bestreichen, als sich ihr
Emilia und Serafina gemeinsam mit Ferrante näherten. Der Ägypterfürst war ihnen
bei ihrer Ankunft entgegengeeilt, als hätte er ihr Erscheinen erwartet. Er
hatte sein Harlekinkostüm abgelegt und gegen ein weißes Hemd und eng anliegende
schwarze Hosen getauscht. Die langen Beine steckten in kniehohen Reiterstiefeln.
Seine schwarzen Locken glänzten wie Lack und seine dunklen Augen glühten.
Emilia hatte bei seinem Anblick abrupt innegehalten. Erstaunen zeichnete ihr
Gesicht. Sie wirkte wie jemand, dem gerade eine unerwartete Entdeckung zuteil
geworden war. Niemals zuvor hatte sie die Schönheit eines Mannes wahrgenommen.
Im Stillen pflichtete ihr Serafina bei. Der Ägypterfürst war tatsächlich ein
Prachtexemplar seiner Gattung. Er schien sich seiner sinnlichen Ausstrahlung
vollauf bewusst zu sein. Dieser Mann konnte jeder Frau, ob erfahren oder
unerfahren, gefährlich werden. Gottlob hatten sie nichts zu befürchten - sie
reisten ja als junge Edelleute.
Das
Mütterchen hatte die Behandlung beendet. Zur Belohnung begann sie ihren
Liebling mit Feigen zu füttern. Zwischen jedem Bissen koste und streichelte sie
das Tier.
„Dies ist
meine Mutter, Cesira“, verkündete Ferrante. Sein Ton zeugte von großer Achtung.
„Und dies sind die edlen Herren Bernardo und Francesco di Perugia, zwei Brüder
auf Pilgerreise nach Rom“, stellte er sie ihrerseits vor. Er griff damit die
Geschichte auf, die sich die beiden jungen Frauen für ihre Reise zurechtgelegt
hatten.
Die Alte, die
bis dato nur Augen für ihren Schützling gehabt hatte, wandte sich ihnen zu. Ihr
intensiver, kohlschwarzer Blick versenkte sich nacheinander in die Augen der
beiden jungen Frauen. Obwohl der jeweilige Kontakt kaum eine Sekunde währte,
gewannen die beiden Freundinnen den Eindruck, als hätte Ferrantes Mutter sie
sofort durchschaut. Ein kurzes Nicken, weder freundlich noch unfreundlich, und
die Frau beendete die Audienz, in dem sie ihnen ihren krummen Rücken zuwandte
und sich erneut der hässlichen Kreatur widmete.
Nach dem exotischen
Exemplar aus fernen Landen erwies sich das gefährliche Raubtier, als kaum
minder herbe Enttäuschung. Es handelte sich um einen abgemagerten Tiger, dem
die Rippen einzeln aus dem stumpfen Fell stachen. Er lag ausgestreckt in der hintersten
Ecke seines Käfigs und bekundete nicht das geringste Interesse an seinen
Besuchern. Paridi tauchte wie ein Schatten hinter ihnen auf und sprang frech
auf die Rampe, auf der der zerschrammte Eisenkäfig ruhte. Er spazierte
rundherum und musterte seinen entfernten Verwandten. Ferrante betrachtete die
Raubkatze mit der Zärtlichkeit eines Vaters für den Sohn.
„Das Tier
sieht aus, als hätte es Zahnschmerzen“, flüsterte Emilia Serafina zu. Wie sich
herausstellte, hatte sie damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Der Tiger litt
tatsächlich daran. Seit Tagen fraß er nichts mehr und nahm nur noch wenig
Wasser zu sich, klärte Ferrante sie über sein Befinden auf.
„Aber Eure Mutter
scheint doch über Erfahrung mit kranken Tieren zu verfügen. Kann sie ihm nicht helfen?“,
erkundigte sich Emilia. Ihr mitleidendes Herz schmolz beim Anblick der
sichtbaren Pein des Tieres.
„Sie könnte
es, aber sie will nicht. Sie hasst ihn und sagt, sein Schicksal gehe sie nichts
an“, erwiderte Ferrante traurig. Furchtlos streckte er seine Hand in den Käfig
und kraulte den mächtigen gestreiften Kopf. Der Tiger ließ es sich ohne jede
Regung gefallen. Er wirkte resigniert, wie jemand, der mit seinem Leben abgeschlossen
hatte und nur noch den Tod herbeisehnte.
„Aber er ist
doch nur ein armes Tier und sicherlich besitzt er großen Wert für Euch“,
empörte sich Emilia sofort.
„Kann man
Hass erklären?“ Ferrante zuckte mit den Schultern. „Aber dieses Wesen verdient
es, zu leben. Ich habe versucht ihm zu helfen, aber er lässt mich nicht in sein
Maul sehen. Morgen…“ Seine Stimme stockte, als haderte er mit seinem
Entschluss. Er gewann seine Fassung zurück und beendete den Satz: „Morgen werde
ich ihn von seiner Qual erlösen. Das ist alles, was ich für ihn tun kann.“
Emilia rührte
Ferrantes Liebe zu dem Tier.
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