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Das Hexenkreuz

Das Hexenkreuz

Titel: Das Hexenkreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanni Muenzer
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Jäh verspürte sie den Wunsch, ihn zu trösten. Die
unerwartete Empfindung verwirrte sie und verlegen rückte sie ihre Kappe
zurecht.
    „Ich glaube,
dass ich ihm vielleicht helfen könnte“, ließ sich Serafina überraschend
vernehmen. Sie trat nahe an den Käfig heran und der Tiger geruhte, ein Auge für
sie zu öffnen. Sein Schwanz klopfte einmal schwach auf den Boden.
    „Oh, er
reagiert auf Euch“, rief Ferrante freudig. „Das hat er noch bei keinem getan.
Aber sagt, wie wollt Ihr ihm helfen? Seid Ihr ein Medicus?“
    „Ja“,
erwiderte Serafina knapp. „Zunächst sollten wir herausfinden, wie schlimm es
wirklich um ihn steht. Seine Schwäche rührt sicherlich daher, weil er wegen der
Schmerzen keine Nahrung mehr zu sich nehmen kann. Man müsste ihn betäuben und
dann in sein Maul sehen. Ein eitriger Zahn sollte zu entfernen sein. Ich habe
einige Kräuter bei mir, die ein Pferd umwerfen könnten. Ich könnte einen Trank
daraus bereiten.“
    „Das wollt
Ihr tun?“ Ferrante blickte Serafina mit neu erwachter Hoffnung an.
    „Natürlich.
Zeigt mir nur, wo ich ihn zubereiten kann.“
    Eine Stunde
später war der Betäubungstrank fertig. Ferrantes alte Mutter war kurz an der
Feuerstelle aufgetaucht und hatte ihre Missbilligung über Serafinas Einmischung
kundgetan, indem sie neben ihr ausgespuckt hatte. Serafina stieß sich nicht
daran. Sie fühlte, dass sie das Richtige tat. Ein Schatten fiel auf sie.
Ferrante. Die Ungeduld hatte ihn zu ihr getrieben. Vor kurzem noch dazu bereit,
dem Leiden des Tigers mit eigener Hand ein Ende zu bereiten, brannte sein
Besitzer jetzt darauf, ihn dem Tode zu entreißen.
    Während sich
Serafina mit den Vorbereitungen für den Schlaftrunk beschäftigt hatte, hatte er
bei dem Tiger Anil verharrt und zu ihm in der alten Sprache der Ägypter
gesprochen. Es hatte sich wie eine Beschwörung angehört. Emilia hatte ihm
zusammen mit Paridi Gesellschaft geleistet. Sie fühlte eine seltsame
Verbundenheit mit dem Zigeuner. Etwas war heute in ihr erwacht. Wie sollte sie
es beschreiben? Erwartung? Um ihre Befangenheit zu überspielen, erkundigte sie
sich bei ihm, was der Name Anil bedeutete und er erklärte ihr, dass er in der
indischen Sprache ´Gott des Windes` hieß. Ab und zu kamen Männer vorbei und
Ferrante erteilte ihnen Anweisungen. Die tägliche Arbeit musste verrichtet
werden, ungeachtet des sich im Tigerkäfig abspielenden Dramas.
    „Der Trank
ist fertig“, verkündete Serafina den Kindern, die sich um sie geschart hatten.
Sie goss ihn mehrmals zwischen zwei Gefäßen hin und her, um ihn abzukühlen.
Schließlich schüttete sie alles in den ausgespülten Tigertrog und maß nochmals
die gleiche Menge Wasser hinzu. Dann schlug sie zusammen mit Ferrante den Weg
zum Käfig ein. Die Kinder und die mageren Hunde des Lagers folgten ihnen. Auch
der kleine Mohr und sein Äffchen schlossen sich der kleinen Prozession an.
Emilia erwartete sie vor dem Käfig. Paridi saß neben ihr, den Schwanz um den
Körper geschlungen.
    Serafina
stellte den Trog vorsichtig auf der Rampe ab und wandte sich dann an Ferrante:
„Bitte stellt ihn zu ihm hinein. Danach bitte ich Euch, mich mit dem Tiger
alleine zu lassen.“ Um Ferrantes beginnenden Protest zuvorzukommen, legte sie
ihm ihre Hand auf den Arm und flüsterte: „Ich weiß, was ich tue, aber ich muss
es alleine und ohne Zeugen verrichten. Bleibt in der Nähe, ich werde Euch
rufen.“ Ferrante neigte den Kopf zum Zeichen, dass er begriffen hatte. Auch
seine Mutter Cesira duldete bei bestimmten Ritualen keine Zeugen.
    „Geht, geht
nun alle!“, forderte er sein kleines Gefolge auf.
    Emilia
machte Anstalten zu bleiben, doch Serafina bat auch sie, sie zu verlassen.
Allein Paridi durfte ihr weiterhin Gesellschaft leisten. Sie trat an den Käfig
und begann leise in einer alten kehligen Sprache zu singen, die ihre Mutter sie
gelehrt hatte. Dann kletterte sie zu ihm hinein. Der Tiger hatte sich nicht
gerührt. Langsam strich sie ihm über die geschlossenen Lider. Ein Beben
durchlief den noch immer mächtigen Körper, dann öffnete er seine Augen.
Schwerfällig, wie in Trance, erhob er sich in eine sitzende Stellung und leerte
den Trog bis zum letzten Tropfen. Serafina zog sich aus dem Käfig zurück, um
ihr vorbereitetes Bündel zu holen. Sie band sich eine Schürze um, die sie sich
bei einer der Frauen des Lagers erbeten hatte. Das Reißen eines Zahnes war eine
blutige Angelegenheit. Davon abgesehen war es Schwerstarbeit. Sie stieg wieder
in den

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