Das Hexenkreuz
Emilia
verzweifelt. Sie hörte den triumphierenden Ruf des Anführers: „Jetzt haben wir
sie! Sie sitzen in der Falle.“ Nur noch etwas mehr als einhundert Meter
trennten die Flüchtenden von ihren Verfolgern, als plötzlich ein lautes Donnern
einsetzte und innerhalb von Sekunden zu einem ohrenbetäubenden Tosen anschwoll.
Emilia sah nach oben und schrie: „Eine Mure! Direkt über uns! Sie stürzt auf
uns herab!“
Dann brach
die Hölle los. Eine gewaltige Schlammlawine ergoss sich wie ein Wasserfall über
die Felskante, ganze entwurzelte Bäume und Felsen mit sich führend. Sie
verfehlte sie nur um wenige Meter. Schlammbespritzt, aber ohne nennenswerte
Blessuren erreichten sie die Felswand. Noch immer donnerte die Mure ins Tal und
überschwemmte das Plateau. Sie war buchstäblich in letzter Sekunde ihre Rettung
gewesen. Ein Teil der herzoglichen Reiter war von ihr mitgerissen worden und
der Rest durch meterhohes Geröll von ihnen getrennt worden. Mit weichen Knien
folgten sie Filippo. Ihr Führer erwartete sie vor einem Ginsterbusch, der sich
an einen Felsvorsprung schmiegte. „Puh, das war knapp. Die Herren Reiter hatten
leider etwas weniger Glück“, kommentierte er lapidar und wischte sich Schmutzspritzer
aus dem Gesicht. Unbekümmert der Tatsache, dass die Stacheln seine Haut
zerschrammten, schob der Junge den Busch zur Seite. Hier ist es“, sagte er dann
stolz. „Der Eingang zur Drachenhöhle.“ Dicht am Boden wurde ein Spalt im Felsen
sichtbar; der Schlund gähnte ihnen schwarz entgegen.
Ein Tor in
die Erde! dachte Serafina. Sie konnte sich eines leichten Schauderns nicht
erwehren. Sah so der Schlund zur Hölle aus?
„Mein Vater
hat innen einen Vorrat an Fackeln deponiert. Ich gehe voraus, um eine davon zu
entzünden.“ Flink tauchte der Junge in die Schwärze ab, um kurz darauf wie ein
Schachtelteufelchen wieder daraus hervorzutauchen. „Kommt, edle Herren. Ich
werde vorausgehen und Euch leuchten.“
Je weiter
sie in dem Gang vordrangen, umso kälter und feuchter wurde es. Überall
schwitzte der Fels kleine Rinnsale aus und die Wolle ihrer Kleidung sog die
Nässe auf. Bald klapperten sie mit den Zähnen. Unzählige Stollen verzweigten
sich mit dem ihren, eingewoben in ein beängstigendes Labyrinth. Doch der kleine
Filippo folgte ungerührt und ohne einmal inne zu halten, seinem Weg. Lange ging
es stetig bergab. An manchen Stellen war der Stollen so niedrig, dass sie auf
allen Vieren kriechen mussten und sich Hände und Rücken an dem Felsen aufschrammten.
Ohne jede
Vorwarnung mündete der Gang plötzlich in eine Halle gigantischen Ausmaßes. Noch
benommen von der eben bewältigten, drückenden Enge, verblüffte sie vor allem
die gewaltige Höhe. Eine Kathedrale hätte darin mühelos Platz gefunden. Genau
in der Mitte der Grotte glitzerte ein kleiner unterirdischer See, der wie ein
Diamant auf dem felsigen Boden schwamm. Die jungen Frauen konnten sich kaum sattsehen
an dem Wunder, das die Erde in Millionen von Jahren vollzogen und dabei diesen
magischen Ort geschaffen hatte. Sie begriffen jetzt, warum der Junge die Grotte
`Höhle der Drachenzähne´ nannte: Rings um den unterirdischen See sprossen aus
Boden und Decke unzählige säulenartige Stalagmiten und Stalaktiten. Dieser phantastische
Anblick erinnerte tatsächlich an das riesige geöffnete Maul eines Drachen. Zufrieden,
als ginge dieses Schauspiel auf sein persönliches Konto, strahlte Filippo sie
an: „Nun, Ihr edlen Herren? Was sagt Ihr? Ist das ein Spektakel?“
„Es ist
wunderschön“, lächelte Emilia dem kleinen Burschen zu. „Mein Leben lang werde
ich diesen verzauberten Ort nicht vergessen. Wir danken dir und versprechen,
das Geheimnis zu wahren. Doch so schön es hier auch ist, so sollten wir jetzt
doch weitergehen.“
Zwei Stunden
später kletterten sie nass und erschöpft hinter einem bemoosten Felsen ans
Tageslicht. Er lag versteckt in einer schattigen kleinen Senke inmitten eines
Waldes. Der Regen hatte endlich aufgehört. Serafina und Emilia streckten ihre
Glieder. Nach der modrigen Luft der Höhle empfing sie der Wald mit seinem
frischen erdigen Geruch. Von fern war das gedämpfte Echo des Flusses zu vernehmen.
Filippo erklärte ihnen, dass sie nicht weit vom Kloster Madonna della Pace
herausgekommen wären. Dieses befand sich nordwestlich von ihnen - weniger als
eine Stunde Fußmarsch von Subiaco entfernt. Rasch überflog Emilia anhand
Filippos Angaben ihren Standort. Wenn sie nordwestlich von Subiaco waren,
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