Das Hexenkreuz
versuchte Emilia zu schreien,
doch kein Laut drang über ihre Lippen. Die dunklen Schatten flossen an ihr
herab wie Pech und zogen sie in die Tiefe. Der süße Geschmack der Freiheit in
ihrem Mund verwandelte sich in kalte Asche.
Aus dem Nirgendwo,
das sie gefangen hielt, drangen dumpf zwei körperlose Stimmen zu ihr.
„Das ist sie
also“, stellte eine männliche Stimme fest.
„Ja. Was
sagst du zu ihr?“, antwortete eine Frauenstimme.
„Nun, du
hattest Recht, Mutter. Sie ist in der Tat außergewöhnlich schön.“
„Das sollte
sie auch sein… Bei den Mühen, die es uns gekostet hat, sie hierher zu
schaffen.“
„Wie lange
noch, bis sie aufwachen wird?“
„Ich schätze
zwei bis drei Stunden. Komm jetzt, es wird Zeit. Seine Eminenz der Bischof ist eben
in den Hof gefahren. Wir sollten ihn gemeinsam empfangen.“
Die
körperlosen Stimmen verschwanden, doch die Dunkelheit blieb. Vergeblich suchte Emilia
in ihren wunderbaren Traum zurückzukehren und sich erneut in dessen leuchtende
Wärme zu hüllen. Doch die Farben der Freiheit hatten sich verflüchtigt.
Emanuele, Francesco und Donatus jagten auf der Via Tiburtina
dahin. Eine lang gezogene Gruppe Pilger kam in Sicht und sie mussten ihre
Pferde zügeln. Emanuele nutzte die kurze Atempause und lenkte sein Pferd neben
das seines Freundes. Er stellte Francesco die Frage, die ihm seit ihrem
Aufbruch auf den Lippen brannte: „Wohin genau reiten wir? Hast du eine
Vermutung, wohin man meine Schwester bringen wird?“
„Ich hoffe,
dass sie unterwegs nach Sulmona sind. Der Herzog verfügt dort über eine gut
bewachte Festung. Wenn ich mit meiner Annahme richtig liege, dass dem Herzog an
einer schnellen Vermählung gelegen ist, könnte die Hochzeit bereits morgen in
der dortigen Kathedrale stattfinden. Der Bischof von Sulmona ist der Familie
des Herzogs seit langem eng verbunden und wird die Trauung sicher selbst
vornehmen. Falls deine Schwester nicht nach Sulmona gebracht wurde, wenden wir
uns Pescara zu, seiner dortigen Residenz. Spätestens morgen frühe werden wir
Klarheit haben.“
„Emilia wird
sich weigern, den Herzog zu heiraten“, wandte Emanuele erregt ein. „Wenn der
Bischof ihr die Frage vor Gott als Zeugen stellt und sie darauf mit ´nein`
antwortet, kann selbst er sie nicht dazu zwingen. Sie wird einen Skandal
heraufbeschwören.“
„Glaub mir,
die Herzogin verfügt über ausreichend Drogen, um Emilia gefügig zu machen. Sie
wird nicht sie selbst sein und genau das tun, was man ihr befehlen wird“,
entgegnete Francesco hart. „He da! Zur Seite ihr braven Leute“, rief er und
trieb sein Pferd mit den Schenkeln an.
Die Pilger
schufen endlich einen Durchgang für sie. Im gestreckten Galopp jagten sie
weiter.
Emilia schlug die Lider auf. Ihre Umgebung konnte sie zunächst
nur als konturlose Schemen wahrnehmen - als würde sie über den Dingen schweben.
Endlich kristallisierten sich ein Sessel, ein Frisiertisch und eine Kommode
heraus. Sie selbst lag ausgestreckt in einem Bett. Nichts in ihrer Umgebung
erkannte sie wieder. Sie war noch nie in diesem Raum gewesen. Oder doch? Sie
erschrak, weil sie sich überhaupt nicht erinnern konnte. Ihr Gehirn schien wie
leer gefegt, ein Vakuum, das ihr die Erinnerung versagte. Sie sah ein, dass es
vorerst zu nichts führen würde, sich mit dem nicht Greifbaren zu martern.
Besser, sie beschäftigte sich mit dem Unmittelbaren. Suchend glitten ihre Augen
umher und sie entdeckte die Tür. Sie warf die leichte Seidendecke von sich. Zu
ihrem Staunen fand sie sich darunter vollkommen nackt. Wer hatte sie
ausgekleidet? War sie krank gewesen? Der Gedanke erschreckte sie. Bisher hatte
sie ihre unverwüstliche Gesundheit nie im Stich gelassen. Das würde immerhin
ihren schmerzenden Kopf und den bitteren Geschmack in ihrem Mund erklären. Ihr
Versuch aufzustehen endete mit einem heftigen Schwindelanfall. Sie klammerte sich
an den geschnitzten Pfosten des Bettes und presste ihre Stirn gegen das harte
Holz. Der Schwindel ließ nach. Das Bett thronte auf einem Podest, so dass sie
zwei Stufen hinabsteigen musste. Das erklärte zumindest ihre kurzfristige
Illusion, als schwebte sie auf einem Schiff durch den Raum. Das Prunkbett mit
seinem Baldachin aus goldfarbenem Brokat rief die Erinnerung an ein anderes
hervor. Etwas sagte ihr, dass sie erst kürzlich in einem ähnlichen Bett
geschlafen hatte. Aber wo? Auf dem Nachttisch stand eine Karaffe mit Wasser.
Emilia füllte ein Glas und trank gierig. Langsam tastete sie
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